§ 174 AO – Rettungsanker bei falschen zeitlichen Umsatzzuordnungen?

Im Rahmen meines Studiums an der FHF Nordkirchen, das zugegebenermaßen schon einige Jahrzehnte zurückliegt, waren die Änderungsvorschriften der AO ein wichtiges (Prüfungs-)Thema. Dementsprechend wurde darauf viel Unterrichtszeit verwendet. Ich kann mich aber daran erinnern, dass § 174 AO schwer „zu fassen“ war. Und auch in meiner langjährigen Praxis ist mir ein Fall des § 174 AO („Widerstreitende Steuerfestsetzungen“) – so glaube ich – nie begegnet.

Umso aufmerksamer habe ich ein aktuelles BFH-Urteil gelesen, das möglicherweise als Rettungsanker bei falschen zeitlichen Umsatzzuordnungen dienen kann (BFH-Urteil vom 29.8.2024, V R 19/22).

Der Sachverhalt:

Die Klägerin führte in ihrer Werkstatt Reparaturen an Fahrzeugen des Herstellers X durch, die dieser im Rahmen von „Gewährleistungen“ vergütete. Die Klägerin berechnete ihre Steuer nach vereinbarten Entgelten. Sie verbuchte ihre Ansprüche gegen X für die Reparaturleistungen auf einem „Vergütungskonto“. Der Saldo auf diesem „Vergütungskonto“ belief sich am Ende des Jahres 2012 auf 32.518,58 Euro, wobei die Klägerin die hierfür erbrachten Leistungen nicht bereits in 2012 versteuerte, sondern erst mit der Vereinnahmung in 2013 (Streitjahr). Zum Ablauf des Streitjahrs ergab sich ein Vergütungssaldo von 102.642,67 Euro, wobei die Klägerin die hierfür erbrachten Leistungen wiederum nicht im Streitjahr, sondern erst mit der Vereinnahmung in 2014 versteuerte.

Das Finanzamt beanstandete die erst mit Vereinnahmung vorgenommene Versteuerung und erhöhte die Bemessungsgrundlage der Umsatzsteuerfestsetzung 2013 um den Vergütungssaldo 2013 in Höhe von 102.642,67 Euro. Die Klägerin beantragte daraufhin, die Umsatzsteuerfestsetzung 2013 – korrespondierend zu der vorgenommenen Erhöhung – um den Vergütungssaldo 2012 in Höhe von 32.518,58 Euro zu mindern, der ja bereits in 2013 versteuert wurde, tatsächlich aber im Jahr 2012 hätte versteuert werden müssen. Diesen Antrag lehnte das Finanzamt ab. Die Klage beim FG hatte zwar keinen Erfolg, doch der BFH sah die Revision im Hinblick auf die Besonderheiten des § 174 AO als begründet an.

Die Begründung in aller Kürze:

Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können danach aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden, wobei dies auch dann gilt, wenn der Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird (§ 174 Abs. 4 Satz 1 und 2 AO).

Das heißt: Wenn aufgrund einer rechtsirrigen Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts (Besteuerung der bereits in 2012 ausgeführten Leistungen erst bei Vereinnahmung des Entgelts in 2013) ein entsprechender Steuerbescheid erlassen wurde, der aufgrund des vom Steuerpflichtigen gestellten Antrags zu seinen Gunsten geändert werden soll (keine Besteuerung der in 2012 ausgeführten Leistungen in 2013), können aus dem Sachverhalt nachträglich durch Änderung eines Steuerbescheids (hier für 2012) die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden, wobei dies unter den in § 174 Abs. 4 Satz 3 und 4 AO genannten Voraussetzungen selbst dann möglich ist, wenn die Festsetzungsfrist für die Umsatzsteuer 2012 bereits abgelaufen sein sollte.

Denkanstoß:

Betroffenen sei empfohlen, das Urteil genau zu studieren, auch wenn die Begründung sicherlich nicht ganz leicht zu durchdringen ist und es insbesondere auch um § 20 Satz 3 UStG und eine – vermeintliche – Analogie geht. Vor allem gibt das Urteil auch Hinweise zum „richtigen“ Antrag. Unabhängig davon sei die Lektüre des BFH-Urteils vom 23.2.2023 (V R 30/20) empfohlen, in dem es um den Erlass von Nachzahlungszinsen bei unzutreffender zeitlicher Zuordnung von Umsätzen geht.

Vielleicht lässt der eine oder andere Prüfer angesichts des ganzen „Hick-hacks“ um die zeitgerechte Zuordnung von Umsätzen „ohne Mehrergebnis“ auch die Finger von dem Thema.

Ein Beitrag von:

  • Christian Herold

    • Steuerberater in Herten/Westf. (www.herold-steuerrat.de)
    • Autor zahlreicher Fachbeiträge
    • Mitglied im Steuerrechtsausschuss des Steuerberaterverbandes Westfalen-Lippe

    Warum blogge ich hier?

    Als verantwortlicher Redakteur und Programmleiter zahlreicher Steuerfachzeitschriften, meiner früheren Tätigkeit in der Finanzverwaltung und meiner über 25-jährigen Arbeit als Steuerberater lerne ich das Steuerrecht sowohl aus theoretischer als auch aus praktischer Sicht kennen. Es reizt mich, die Erfahrungen, die sich aus dieser Kombination ergeben, mit den Nutzern des Blogs zu teilen und freue mich auf viele Rückmeldungen.

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