Vorrang der verdeckten Gewinnausschüttung gegenüber der objektiv richtigen Bilanz? (Teil 1)

„Vom unklaren Denken zur Besteuerung nach Gutdünken“. Unter dieser Schlagzeile hat Bareis schon im Jahr 2005 eine systemgerechte Gewinnermittlung angemahnt (und sich insbesondere gegen die von Wassermeyer entwickelte Forderung nach einer Zusatzrechnung außerhalb der Bilanz gewandt (Bareis, DB 2010, 2637 versus Wassermeyer, DB 2010, 1959).

Wassermeyer leitet die Hinzurechnung einer verdeckten Gewinnausschüttung (vGA) außerhalb der Bilanz aus § 4 Abs. 1 EStG ab, während Bareis für eine gesonderte „Unterschiedsbetragsermittlung“ keine gesetzliche Grundlage sieht (Bareis, a.a.O.; ders., GmbHR 2009, 813). Tatsächlich verweist § 7 Abs. 4 KStG für Kaufleute auf das Handelsrecht und § 8 Abs. 1 KStG nimmt Bezug auf das Einkommensteuergesetz. Bei der Einkommensteuer geht § 5 EStG als lex specialis der einfachen Gewinnermittlung des § 4 Abs. 1 EStG vor.

Während der qualifizierte Bestandsvermögensvergleich gem. § 5 EStG den handels-rechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (GoB) entsprechen muss, fehlt beim Bestandsvermögensvergleich des § 4 EStG die Anbindung an das Handelsrecht und die GoB. Schon diese unterschiedliche Qualität der Ermittlung eines Periodenerfolgs zeigt, dass der nach Handelsrecht aufgestellte Jahresabschluss keiner Zusatzrechnung bedarf, die sich nicht an den GoB orientiert, sondern nur den Vermögensbestand am Ende eines Geschäftsjahres dem Bestand am An-fang des Jahres gegenüberstellt, ohne an die GoB gebunden zu sein.

Der unbestimmte Wortlaut des Gesetzes als Wurzel des Übels 

Zum Wortlaut des § 8 Abs. 3 KStG gehören die Begriffe „verdeckte Gewinnausschüttung“ und „verdeckte Einlagen“. Die Begriffe „Gewinn“ und „Einlagen“ finden sich ebenso unter den Tatbestandsmerkmalen des § 4 Abs. 1 EStG. Deshalb wun-dert es nicht, wenn die Rechtsprechung bei der Auslegung des unbestimmten vGA-Begriffs auf § 4 Abs. 1 EStG zurückgreift. Die seit dem Urteil des BFH vom 22.2.1989 (I R 44/85) gängige vGA-Definition nimmt auf § 4 Abs. 1 EStG ausdrücklich Bezug. Die Wiederholung des Gesetzestextes mit etwas anderen Worten ist eine schlichte Tautologie.

Verstoß gegen das Realisationsprinzip

Nach den handelsrechtlichen GoB dürfen im Jahresabschluss Gewinne nur ausgewiesen werden, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB.

Auch für das Bundesverfassungsgericht ist das Realisationsprinzip der zentrale Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Vermögen im Rechtssinne ver-körpert zwar ebenfalls eine (latente) Leistungsfähigkeit, es ist aber kein Vermögen im Bilanzsinne. Deshalb betont das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich, bloße Wertzuwächse unterlägen keiner Besteuerung. Nur die verwirklichte Wert-steigerung verschafft dem Steuerpflichtigen jene Liquidität, die er zur Zahlung von Steuern, die immer eine Geldleistung darstellen (§ 3 Abs. 1 AO), benötigt. Wertzuwächse im Betriebsvermögen dürfen daher nur in dem Zeitpunkt ausgewiesen werden, in dem sie realisiert sind (BVerfG v. 7.7.2010, 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05).

An diese Grundsätze hält sich die Rechtsprechung zur vGA seit Jahren nicht. Das mag daran liegen, dass § 4 Abs. 1 EStG keine ausdrückliche Bindung an das Realisationsprinzip anordnet. Insoweit könnte es sich um eine nicht hinreichend bestimmte, rechtsstaatswidrige Norm handeln. Für staatliches Eingriffsrecht ist das Bestimmtheitsgebot zwingend zu beachten:

„Würde die Entscheidung über die Sanktionierung eines Verhaltens der voll-ziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt überlassen, so wäre dies unvereinbar mit dem Prinzip des Grundgesetzes, dass die Entscheidung über die Beschränkung von Grundrechten oder über die Voraussetzung über die Beschränkung dem Gesetzgeber und nicht den anderen staatlichen Gewalten obliegt“ (BVerfG v. 9.1.2014, 1 BvR 299/13, DStR 2014, 540 Rn. 17 mwN).

In die Freiheitsgrundrechte des Bürgers darf nur durch Gesetze eingegriffen werden. Die gleichmäßige Lastenverteilung gebietet keine beliebigen, sondern rechtssichere Belastungen mit Steuern (siehe nur Kirchhof, BB 2017, 662; Tipke, DB 40/2008, Gastkomm.; zur Prinzipientreue ferner Tipke, BB 2007, 1525). Das erfordert klare und eindeutige gesetzliche Vorgaben.

Ob es § 4 Abs. 1 EStG an dieser hinreichenden Klarheit mangelt, mag an der Stelle dahinstehen, denn jedenfalls die auf dieser Norm aufbauende Rechtsprechung zur vGA führt zu einer ungewissen Belastung des Bürgers mit Steuern.

Die verfehlte Wortlautinterpretation

Höher als der Wortlaut steht der Sinn und Zweck eines Gesetzes und der systematische Zusammenhang, in dem eine gesetzliche Regelung steht (BVerfG v. 19.6.1973, 1 BvL 39/69, 1 BvL 14/72; BGH v. 16.5.2013, II ZB 7/11; BFH v. 20.11.2019, XI R 46/17).

Die herkömmliche Definition der vGA geht nur vom Wortlaut des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG aus. Schon der Zusammenhang mit dem vorhergehenden Satz 1 der Vorschrift wird ausgeklammert. § 8 Abs. 3 Satz 1 KStG gibt den Normzweck vor:

Für die Ermittlung des Einkommens soll es ohne Bedeutung sein, ob das Einkommen verteilt wird. Die Einkommensverwendung darf die Einkommensermittlung nicht beeinflussen.

Die Ergebnisverwendung steht vielmehr allein zur Disposition der Organe der Körperschaft. Die Organe wiederum dürfen nur über den zuvor nach den geltenden Vorschriften ermittelten Jahresüberschuss verfügen (§ 29 GmbHG).

Das Handelsrecht spricht außerdem nicht von einem Gewinn, sondern von einem Jahresüberschuss oder Jahresfehlbetrag (§ 275 Abs. 2 Nr. 17, Abs. 3 Nr. 16 HGB). Die Gewinnausschüttung ist nur eine mögliche Variante der Ergebnisverwendung, wie ein Blick auf die §§ 158 Abs. 1 Nr. 5, 119 Abs. 1 Nr. 2 AktG zeigt. Über die Verwendung des „Bilanzgewinns“ entscheidet die Hauptversammlung.

Der Gewinn, auf den sich eine (offene) Ausschüttung bezieht, ist also systematisch etwas anderes als der Jahresüberschuss. Die Ergebnisverwendung ist systematisch der Ergebnisermittlung nachgeordnet, sie ist ein Appendix zur Gewinn- und Verlust-rechnung.

Die „verdeckte“ Ergebnisverwendung findet allerdings schon auf der Ebene der Ergebnisermittlung statt. Unabhängig davon, ob derartige, die Kompetenz der Gesell-schafterversammlung missachtende Vermögensauskehrungen zulässig sind, ist es jedenfalls bilanzrechtlich nicht gestattet, die Ergebnisverwendung schon innerhalb der Gewinn- und Verlustrechnung zu buchen. Durch den Betrieb veranlasste Geschäftsführungsmaßnahmen stellen jedoch keine vGA dar (siehe BGH v. 1.12.1986, II ZR 306/85, BFH v. 30.1.2013, II R 6/12).

Es spricht alles dafür, dass die unzulässige Ergebnisverwendung nicht außerhalb, sondern innerhalb der Bilanz zu bereinigen ist. Für eine Zusatzrechnung außerhalb der Bilanz gibt der Wortlaut des § 8 Abs. 3 KStG nichts her. Das Gesetz darf nicht über den klaren Wortlaut und den möglichen Wortsinn hinaus ausgelegt werden (BFH v. 4.2.2016, IV R 46/12).

Schlichte Bilanzierungsfehler sind schon nach herkömmlichem Verständnis nicht außerhalb, sondern innerhalb der Bilanz richtigzustellen. Das gilt inzwischen sogar für subjektiv fehlerhafte Bilanzansätze oder Bewertungen (siehe BFH v. 21.10.2014, VIII R 22/11; beachte Briese, BB 2014, 1943; Weber-Grellet, BB 2014, 2263, 2270). Die objektiv richtige Bilanz hat seit 2013 Vorrang gegenüber jeder anderen denkbaren Rechnungslegung (BFH v. 31.1.2013, GrS 1/10; dazu siehe Weber-Grellet, DStR 2013, 729; Schulze-Osterloh, BB 2013, 1131; Oser, DB 2013, 2466; Lohse/Zanzinger, DStR 2014, 921).

Warum soll für den steuerlichen Sondertatbestand der vGA etwas Anderes gelten?

Hier endet der erste Teil dieses Beitrags. Teil zwei erscheint in Kürze.

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