Vorläufigkeit nur wegen Musterverfahrens: Darf dennoch zu Ungunsten der Steuerpflichtigen geändert werden?

§ 165 Abs. 1 Satz 2 AO gestattet der Finanzverwaltung eine vorläufige Steuerfestsetzung unter anderem, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens beim EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht ist. Der Vorläufigkeitsvermerk betrifft nur einen speziellen Punkt des Steuerbescheides und nicht die gesamte Steuerfestsetzung eines Jahres. Ergeht ein Steuerbescheid nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO vorläufig, weil das Finanzamt bewusst zu erkennen gegeben hat, dass es einen bestimmten Vorgang noch einmal prüfen will, so ist es berechtigt, den Steuerbescheid später auch zu Ungunsten des Steuerpflichtigen zu ändern.

Doch gilt dies auch im Falle des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO, also wenn ein Steuerbescheid nur wegen eines ausstehenden Musterverfahrens vorläufig ergeht? Diese Frage wird demnächst der BFH in dem Verfahren VI R 14/23 beantworten müssen. Die Vorinstanz, das FG Köln, hatte eine Änderung zulasten der Steuerpflichtigen verneint (FG Köln, Urteil vom 12.7.2023, 3 K 1356/22).

Der Sachverhalt:

Nach der lediglich dreimonatigen Ausbildung als Rettungssanitäterin begann die Klägerin ein Medizinstudium, das in den Jahren 2011 zu 2016 zu erheblichen Verlusten führte. Im Rahmen der erstmaligen Einkommensteuerbescheide für 2015 und 2016 erkannte das Finanzamt diese negativen Einkünfte an, da es offenbar davon ausging, dass mit dem Medizinstudium eine Zweitausbildung vorlag. Dabei galt die nur dreimonatige Ausbildung als Rettungssanitäterin bereits seit dem 1.1.2015 aufgrund des neuen § 9 Abs. 6 EStG nicht mehr als Erstausbildung, so dass das Medizinstudium seit 2015 nicht als Zweitausbildung gelten konnte.

Die Bescheide ergingen allerdings gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig “ …. hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG) …. .“ Damals war noch streitig, ob Kosten für ein Erststudium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben abgezogen werden dürfen. Erst später wurde dies vom BVerfG verneint und die gesetzliche Regelung als verfassungskonform erachtet. Im Jahre 2021 erkannte das Finanzamt seinen ursprünglichen Fehler und korrigierte diesen zulasten der Steuerpflichtigen unter Hinweis darauf, dass die Steuerbescheide 2015 und 2016 ja ohnehin vorläufig ergangen seien. Doch das durfte es nicht, wie das FG Köln entschieden hat.

Die Begründung:

Der Regelungszweck des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gestatte es nicht, nachteilige Änderungen an einer für den Steuerpflichtigen günstigen Steuerfestsetzung vorzunehmen. Im Streitfall erfolgte die Anbringung des Vorläufigkeitsvermerks gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO allein vor dem Hintergrund der Frage, ob die belastenden steuerrechtlichen Regelungen der §§ 4 Abs. 9 und 9 Abs. 6 EStG, die die Berücksichtigungsfähigkeit von Berufsausbildungskosten als – vorweggenommene – Betriebsausgaben oder Werbungskosten beschränken, verfassungsgemäß sind bzw. wie das BVerfG in den hierzu anhängigen Verfahren entscheiden werde. Nach einer Entscheidung des BVerfG hätte es ausschließlich zu einer Änderung zugunsten der Steuerpflichtigen kommen können.

Denkanstoß:

Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen und vom Finanzamt – wie erwähnt – auch bereits eingelegt. Es wird spannend sein, ob der BFH dem FG Köln folgen wird.

Das FG Baden-Württemberg hatte vor einigen Jahren übrigens entschieden, dass eine Änderung in einzelnen materiell-rechtlichen Punkten ausscheidet, wenn es in dem Vorläufigkeitsvermerk nur um die Frage der Verfassungsmäßigkeit ging, nicht aber um einzelgesetzliche Fragen (Urteil vom 12.12.2018, 14 K 3172/17).

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