Der Streit, unter welchen Bedingungen vorläufiger Rechtsschutz im Sinne des § 361 AO, alternativ § 69 FGO, zu gewähren ist, wird wohl immer anhalten. Jüngst hat der II. Senat des BFH die „alte Leier“, dass das öffentliche Interesse gegenüber dem Steuerpflichtigen überwiegt, betont (II B 91/15). Es geht um den Solidaritätszuschlag, also um eine „vorübergehende“ Steuererhebung auf Zeit. Niemand weiß, wann diese Steuer erstmalig erhoben wurde, deshalb dürfte bei den jungen Richtern das „Zeitgefühl“ für eine richtige Entscheidung bereits fehlen. Der Mensch gewöhnt sich so schnell an das, was ihm vorgesetzt wird. Die kritischen Denkelemente werden zurzeit in unserer Gesellschaft immer mehr zurückgedrängt.
So letzten Endes auch mit dieser spannenden Frage. Ist der Solidaritätszuschlag verfassungswidrig? Der 7. Senat des Nieders. FG ist davon sehr überzeugt. Immerhin stammt der Vorlagebeschluss an das BVerfG vom 21.08.2013 (7 K 143/08, BVerfG 2 BvL 6/14). So verwundert es nicht weiter, wenn dieser FG Senat konsequent die Aussetzung der Vollziehung gewährt (7 V 89/14) und zwar unter Beachtung des § 69 Abs. 2 Satz 8 Halbsatz 2, Abs. 3 Satz 4 FGO (siehe FG Beschluss Begründung 5.). Bei Überzeugung des Gerichtes, dass ein Verfassungsverstoß vorliegt, kann die Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes nicht geringer ausfallen als bei einem allgemeinen, sonstigen Rechtsverstoß. Bei anderer juristischer Betrachtung würde der schwerwiegendere Verfassungsverstoß nicht genügend berücksichtigt.
Der Einnahmeausfall der öffentlichen Hand wird zurzeit durch erhebliche Mehreinnahmen nicht belastet. Das niedrige Zinsniveau begünstigt den Fiskus ebenfalls. Hier ist anzumerken, dass der Fiskus bei der Verzinsung der Aussetzungszinsen die Realität ignoriert (§ 237 AO).
Diese Gedankenwelt ist dem II. Senat des BFH fremd. Mit den „alten Argumenten“ wird der Beschwerde des Finanzamtes zum Erfolg verholfen. Eine argumentative Auseinandersetzung mit dem Beschluss des Nieders. FG erfolgt nicht. Da der BFH die Erhebung des Solidaritätszuschlages nicht dem BVerfG vorgelegt hat, scheint eine Aussetzung der Vollziehung noch nicht geboten zu sein. Eine „sehr klare Begründung“. Offensichtlich ist der II. Senat sich nicht sicher. Für zukünftige „Fälle“ muss man sich ein „Türchen der Begründung“ offen halten.
So ist der Einzelfall (unzulänglich) entschieden und wir warten auf die nächste (Überraschungs-)Entscheidung. Für die Praxis ist dies alles nicht brauchbar. Es darf nicht dazu führen, zu resignieren und den vorläufigen Rechtsschutz erst gar nicht zu versuchen. Die Hürden sind offensichtlich hoch, nicht erst seit der Überteuerung der Aussetzungszinsen, die die Realität verlassen haben.
So kommt Verärgerung und Frust auf. Die staatlichen Organe und die Rechtsprechung, erst Recht die des BFH, ist gefordert, die Interessen der Bürger zu beachten. Davon ist diese Entscheidung des BFH weit weg. Realität ist gefragt, gesunder Menschenverstand und ein wenig Pragmatismus. Das muss Juristen nicht fremd sein, wie der 7. Senat des Nieders. FG beweist.
Weitere Infos:
BVerfG, Urteil vom 21.08.2013 – 7 K 143/08
Verfahrensverlauf | BVerfG – 2 BvL 6/14, anhängig seit 22.02.2014 (per 18.07.2016)
FG Niedersachsen, Urteil vom 22.09.2015 – 7 V 89/14