Vertrauensschutz in der „Kopf und Seele“-Rechtsprechung des BSG?

Im Jahre 2012 hatte das Bundessozialgericht (BSG) die so genannte „Kopf und Seele“-Rechtsprechung zur Sozialversicherungspflicht von GmbH-Gesellschafter-Geschäftsführern aufgegeben (andere sprechen von „modifiziert“). Zuvor hatte das BSG jedenfalls auch für den Fall, dass der Geschäftsführer einer Gesellschaft nicht zumindest über eine Sperrminorität verfügte, eine selbstständige Tätigkeit des Betroffenen für möglich erachtet, wenn dessen Tätigwerden innerhalb einer Gesellschaft durch eine besondere Rücksichtnahme aufgrund familiärer Bindungen geprägt war.

Nun werden zahlreiche Betroffene erneut nach Kassel schauen, denn es geht dort am 19. September 2019 um die Frage, ob mindestens bis zu den BSG-Urteilen vom 29.8.2012 (B 12 KR 25/10 R und B 12 R 14/10 R) ein Vertrauensschutz bestanden hat.

Die Klägerinnen in den vier Revisionsverfahren waren in den streitbefangenen Zeiträumen Familiengesellschaften in der Rechtsform der GmbH. Sie wenden sich gegen die Feststellung von Versicherungspflicht ihrer Geschäftsführer durch die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund und daraus resultierende Nachforderungen von Beiträgen zur Sozialversicherung aufgrund von Betriebsprüfungen. Klage und Berufung sind in allen Verfahren ohne Erfolg geblieben.

Die klagenden Gesellschaften rügen eine Verletzung von § 7 Abs 1 SGB IV in Verbindung mit dem sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Grundsatz des Vertrauensschutzes. Sie berufen sich im Wesentlichen darauf, dass sie aufgrund der sogenannten „Kopf und Seele“-Rechtsprechung darauf vertrauen durften, dass ihre Geschäftsführer selbständig tätig und damit nicht versicherungspflichtig gewesen seien. Nach dieser Rechtsprechung habe eine rechtlich bestehende Abhängigkeit von Geschäftsführern in Familiengesellschaften durch die tatsächlichen Verhältnisse überlagert werden und eine selbstständige Tätigkeit etwa vorliegen können, wenn ein Geschäftsführer aufgrund seiner Stellung in der Familie die Geschäfte der Gesellschaft wie ein Alleingesellschafter nach eigenem Gutdünken geführt und die Ordnung des Betriebes geprägt habe, er „Kopf und Seele“ des Unternehmens gewesen sei oder er – wirtschaftlich gesehen – seine Tätigkeit nicht wie für ein fremdes, sondern wie für ein eigenes Unternehmen ausgeübt habe.

Die klagenden Gesellschaften machen geltend, dass mindestens bis zu den Urteilen des BSG vom 29.8.2012 eine ständige und gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung bestanden habe, von der sie als Familiengesellschaften auch insofern profitiert hätten, als ihre Geschäftsführer nicht als abhängig beschäftigt und versicherungspflichtig zu beurteilen gewesen wären. Erst im Jahr 2012 habe das BSG Zweifel an einer Anwendbarkeit der „Kopf und Seele“-Rechtsprechung im Versicherungs- und Beitragsrecht geäußert. Die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund habe ihre Weisungslage im Jahr 2014 an die Änderung dieser Rechtsprechung angepasst.

Hinweis

In drei weiteren Entscheidungen hatte das BSG in 2015 zu der Frage genommen, unter welchen Voraussetzungen sich Minderheits-Gesellschafter-Geschäftsführer von der gesetzlichen Sozialversicherungspflicht befreien lassen können. Die Entscheidungen waren „erforderlich“, nachdem mehrere Landessozialgerichte jeweils eine vertragliche Stimmbindung als ausreichend gesehen hatten, um eine unternehmerische Stellung eines Minderheitsgesellschafters zu begründen.

Nach Ansicht der Landessozialgerichte konnten Minderheitsgesellschafter über eine vertragliche Stimmbindungsvereinbarung demnach der Sozialversicherungspflicht „entgehen“ (siehe z.B. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.11.2014, L 4 R 556/13). In der Gestaltungspraxis sind die besagten Stimmbindungsklauseln daher oft verwendet worden. Sie hatten den „netten Nebeneffekt“, dass sie nur bei einer Prüfung der Sozialversicherung „aus dem Hute gezaubert werden mussten“, ansonsten aber zumeist keine Bewandtnis hatten. Sie sind daher oftmals auch als „Schönwetterklauseln“ bezeichnet worden.

Das BSG hat rein vertraglichen Vereinbarungen dann jedoch eine Absage erteilt (BSG, Urteile vom 11.11.2015, B 12 KR 13/14 R, B 12 R 2/14 R, B 12 KR 10/14 R).

Das BSG bejahte zwar die Zulässigkeit einer Stimmrechtsvereinbarung. Allerdings seien solche Abreden nach Ansicht des BSG nicht geeignet, die sich aus dem Gesellschaftsvertrag ergebenden Rechtsmachtverhältnisse mit sozialversicherungsrechtlicher Wirkung zu verschieben, da der Stimmbindungsvertrag von jedem Gesellschafter zumindest aus wichtigem Grund gekündigt werden kann (zu Einzelheiten vgl. Bosse in NWB Nr. 5 vom 1.2.2016 Seite 352).

Stimmbindungsvereinbarungen müssten also in der Satzung verankert sein, um sozialversicherungsrechtliche Wirkung zu entfalten. Aber die Betroffenen sollten sich natürlich über die Konsequenzen im Klaren sein: Mit der Stimmbindung wird die Rechtstellung des Mehrheitsgesellschafters erheblich eingeschränkt.


Lesen Sie hierzu auch:

Bosse, Stimmbindung und Befreiung von der Sozialversicherungspflicht, NWB 2016 S. 352, NWB AAAAF-47822
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