Bekanntgabe von Steuerbescheiden: Kann ein Gesamtrechtsnachfolger den Zugang wirksam bestreiten?

In der Praxis kommt es häufig vor, dass der Zugang eines Steuerbescheides bestritten wird. Üblicherweise müssen die Finanzämter das Bestreiten des Zugangs zähneknirschend zur Kenntnis nehmen und den Steuerbescheid erneut zur Post geben. Manch Finanzamt zeigt sich allerdings kampfbereit und lässt es auf einen Prozess vor dem Finanzgericht ankommen. Gerne wird dabei vorgebracht, es liege am Steuerpflichtigen, den Nichtzugang des Steuerbescheides glaubhaft darzulegen. Die Rechtsprechung sieht die Beweislast aber beim Finanzamt (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 29.4.2009, X R 35/08).

Ausnahmen können sich ergeben, wenn sich der Vortrag des Steuerpflichtigen als reine Schutzbehauptung entlarvt oder wenn sein Verhalten erkennen lässt, dass ihm der Steuerbescheid wohl doch zugegangen ist (vgl. z.B. FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.12.2019, 9 K 9073/18).

Was aber gilt, wenn nicht der Steuerpflichtige selbst, sondern sein Gesamtrechtsnachfolger den Zugang eines Steuerbescheides bestreitet? Mit dieser Frage wird sich bald der BFH beschäftigen müssen. Vorausgegangen ist ein Urteil des FG Münster, das die Zugangsfiktion im zugrunde liegenden Fall tatsächlich als erschüttert ansah. Allerdings hat das Gericht klargestellt, dass das bloße Bestreiten des Zugangs eines Schriftstücks nicht ausreichend ist (FG Münster, Urteil vom 19.4.2024, 4 K 870/21 E, Revision unter Az. VI R 16/24).

Der – verkürzte und leicht abgewandelte – Sachverhalt:

Im Jahre 2017 erließ das Finanzamt den Einkommensteuerbescheid für 2016. Im Februar 2020 verstarb die Steuerpflichtige. Sie galt als gewissenhafte Person und ihre Steuerunterlagen waren gut geordnet. Es fehlte in den – chronologisch sortierten – Unterlagen aber der Einkommensteuerbescheid für 2016. Im März 2020 teilte der Gesamtrechtsnachfolger dem Finanzamt mit, dass die Steuerpflichtige verstorben sei. Bei der Auflösung des Haushalts seien Unterlagen/Belege gefunden worden, die für die Einkommensteuererklärung für 2016 noch relevant seien. Der Gesamtrechtsnachfolger bestritt den Zugang des damaligen Steuerbescheides und reichte Unterlagen nach, mit der die Steuerlast des Jahres 2016 verringern werden sollte. Das Finanzamt war hingegen der Auffassung, dass die Unterlagen verspätet nachgereicht wurden, weil der Einkommensteuerbescheid für 2016 als in 2017 bekannt gegeben gelte. Das FG sah die hiergegen gerichtete Klage aber als begründet an. Die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO sei erschüttert.

Die Begründung:

Das bloße Bestreiten des Zugangs eines Schriftstücks durch den Rechtsnachfolger des Bekanntgabeadressaten lässt die Zugangsfiktion nicht entfallen. Allerdings darf der Maßstab, der an die Erschütterung der Zugangsvermutung im Einzelfall zu stellen ist, nicht überhöht werden. Es sollte daher ausreichen, wenn sich auch nur im Ansatz begründete Zweifel am Zugang des Verwaltungsaktes feststellen lassen. Im Urteilsfall begründet insbesondere die vorgefundene Situation bei der Aufnahme des Nachlasses Zweifel am Zugang des Einkommensteuerbescheids. Es wäre zu erwarten gewesen, dass die Steuerpflichtige den streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheid für 2016 in ihre sortierten Steuerunterlagen aufgenommen hätte, wenn er ihr tatsächlich zugegangen wäre.

Denkanstoß:

Es wurde die Revision zugelassen, da noch keine Entscheidung des BFH dazu vorliegt, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen sich ein Dritter auf die fehlende Bekanntgabe eines Steuerbescheides berufen kann. Wie erwähnt wurde die Revision auch eingelegt. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass der BFH in der Sache anders entscheiden wird. Doch spannend wird sein, welche Grundsätze er allgemein bezüglich des Bestreitens des Zugangs eines Verwaltungsaktes durch den Rechtsnachfolger aufstellen wird.

Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass sich die Bekanntgabe- bzw. Zugangsfiktion ab 2025 auf vier Tage verlängert. Beachten Sie hierzu den Blog-Beitrag „Verlängerung der Bekanntgabefiktion bei Verwaltungsakten ab 2025 – Was bedeutet das für Unternehmen und Bürger?“ von Professor Ralf Jahn.

Steuerfestsetzung „gegen Unbekannt“

Wer häufig Erbschaftsteuerfälle betreut, kann ein Lied davon singen, dass die Erbschaftsteuer-Finanzämter die Erklärungen oftmals sehr zeitnah anfordern und die Steuern festsetzen, obwohl Berater und Mandanten eigentlich noch einige Zeit für die Aufklärung von Sachverhalten oder die Beibringung von Unterlagen benötigen würden. Allein die Zusammenstellung aller Unterlagen für die ordnungsgemäße Bewertung von Immobilien benötigt Zeit, denn wer weiß bei einem etwas größeren Immobilienbestand schon genau, wie groß die jeweiligen Mietwohnungen oder Geschäftsräume exakt sind. Letztlich werden dann seitens des Finanzamts geschätzte Werte herangezogen, die mitunter viel zu hoch sind. Andererseits: Wer das eine oder andere Mal Immobiliengutachten hat erstellen lassen, die durch den Bausachverständigen der Finanzverwaltung geprüft werden müssen, hat auf diese Prüfung ein bis zwei Jahre warten müssen. Und zwar im Regel- und nicht im Ausnahmefall.

Nun gut, bei allem geht es um Fragen der sachlichen Steuerpflicht bzw. um die Höhe der Erbschaftsteuer. Irgendwie arrangiert und einigt man sich mit dem Finanzamt. Eine ganz andere Kategorie hatte aber ein Fall, den soeben der BFH entschieden hat. Hier waren nicht einmal die Erben bekannt. Und dennoch darf das Finanzamt Erbschaftsteuerbescheide „gegen Unbekannt“ erlassen (BFH-Urteil vom 17.6.2020, II R 40/17). Ich gebe zu: Dass dies zulässig ist, war mir bislang nicht bekannt und ich halte es – bei allem Respekt für den BFH – auch für seltsam. Weiterlesen

Wenn der Zugang eines Steuerbescheids bestritten wird….

Zwölf Jahre meines Lebens habe ich in der Finanzverwaltung verbracht. Ich weiß nicht, wie viele Male ich in dieser Zeit den Satz gehört habe „Den Steuerbescheid habe ich nicht erhalten.“ Wie durch ein Wunder sind Steuerbescheide mit Erstattungen eigentlich immer zugestellt worden, Bescheide an steuerliche Berater gleichermaßen; nur Schätzungsbescheide sind sehr häufig verloren gegangen.

Doch aus Sicht des Finanzbeamten musste ich die Behauptung fast immer wohl oder übel hinnehmen und den Bescheid erneut zustellen – sieht man einmal von den Fällen ab, in denen Steuerpflichtige in einem Schriftstück ihrerseits Bezug auf einen Bescheid genommen haben, den sie doch niemals erhalten haben (ja, die Fälle gab es auch).

Ein Finanzbeamter aus dem Raum Berlin-Brandenburg jedenfalls wollte sich mit der (Schutz-)Behauptung, der Bescheid sei nicht angekommen, nicht zufriedengeben. Und siehe da: Er hat einen verständnisvollen Richter gefunden (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9.12.2019, 9 K 9073/18). Weiterlesen

Einsprüche der Folgejahre können den Streitwert erhöhen

Der Streitwert spiegelt den Wert und die Bedeutung des Klageverfahrens für den Steuerpflichtigen wider. Es gibt genügend Sachverhalte, die sich für mehrere Kalenderjahre auswirken. Soweit bereits Folgejahre durch Einspruchsverfahren betroffen sind, erhöht sich der Streitwert für das anhängige Klageverfahren (§ 52 Abs. 3 Satz 2 GKG). Auf diese Vorschrift konnte jüngst der BFH mit seinem Beschluss vom 17.08.15 aufmerksam machen (XI S 1/15). Weiterlesen