Verschiedentlich hatte ich schon zur Bilanzierung von Rechnungsabgrenzungsposten Stellung genommen. Auch meine Mit-Blogger haben sich schon dazu geäußert. Meist handelt es sich bei den abzugrenzenden Beträgen um kleine Summen, etwa aus der Vorauszahlung von Mieten, Zinsen, Versicherungen, KFZ-Steuer. Eigentlich sollte doch in der Praxis zumindest bei den einzeln und in Summe häufig geringen Beträgen kein Streitpotenzial liegen. Aber wir sind in Deutschland und haben nichts Besseres zu tun, als uns höchstrichterlich um „Peanuts“ zu streiten. So etwa im jüngst entschiedenen Fall.
Im entschiedenen Fall hatte der Steuerpflichtige niedrige zwei- und dreistellige Einzelbeträge mit einer jährlichen Gesamtsumme zwischen 1.300 € und 1.550 € nicht als aktiven Rechnungsabgrenzungsposten angesetzt, sondern als Betriebsausgabe und vermutlich auch in der handelsrechtlichen GuV aufwandswirksam verrechnet. Zunächst hatte das angerufene FG Baden-Württemberg dem Steuerpflichtigen mit Verweis auf den Grundsatz der Wesentlichkeit recht gegeben.
Der X. Senat des BFH sieht das anders. Im Ergebnis klammert sich der BFH an den Wortlaut von § 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG: „Als Rechnungsabgrenzungsposten sind nur anzusetzen 1. auf der Aktivseite Ausgaben vor dem Abschlussstichtag, soweit sie Aufwand für eine bestimmte Zeit nach diesem Tag darstellen“.
Zwar anerkennt der BFH die Existenz eines handelsrechtlichen GoB der Wesentlichkeit, den noch das FG herangezogen hatte, um die Nichtaktivierung eines RAP im Entscheidungsfall zu begründen. Der BFH sieht aber nicht zu Unrecht einen Literaturstreit um die Geltung dieses Grundsatzes für Rechnungsabgrenzungsposten. Nur muss man dann seine Entscheidung der Frage auch als höchstes Finanzgericht begründen: „§ 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG statuiert mit der Definition aktiver Rechnungsabgrenzungsposten für die Steuerbilanz ein (abschließendes) Aktivierungsgebot für Ausgaben, die der Definition entsprechen (…); der Steuerpflichtige hat schon nach dem Gesetzeswortlaut insoweit kein Wahlrecht. Weder dem Grundsatz der Wesentlichkeit noch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz lässt sich eine Einschränkung der Pflicht zum Ansatz von Rechnungsabgrenzungsposten auf wesentliche Fälle entnehmen. Somit fehlt es an einer rechtlichen Grundlage für ein Wahlrecht zur Bildung von aktiven Rechnungsabgrenzungsposten in Fällen von geringer Bedeutung …“ (Tz. 14 f.).
In der Folge (Tz. 17) sieht der X. Senat dann den Wesentlichkeitsgrundsatz nur greifen, wenn der Gesetzgeber im Einzelfall ein explizites Wahlrecht zum Ansatz eines Bilanzpostens einräumt. Liebe Leser, stellen Sie sich bitte das Herunterfallen meines Unterkiefers und das Entgleisen meiner Gesichtszüge vor! Ein allgemeiner, übergreifender Grundsatz der Wesentlichkeit soll nach dieser recht eigenen Logik des BFH also nur dann gelten, wenn der Gesetzgeber ihn in jedem Einzelfall durch ein explizites Wahlrecht zum Bilanzansatz berücksichtigt hat. Bitte stellen Sie sich jetzt die zahlreichen Fragezeichen über meinem Kopf und einen verzweifelten Gesichtsausdruck vor. Wozu braucht es einen GoB der Wesentlichkeit, wenn er doch nur dann greift, wenn es ein explizites gesetzliches Wahlrecht zum Bilanzansatz im Einzelfall gibt????
Die Krönung ist dann noch die Heranziehung des Gesetzesbegründung: „Da hinsichtlich (…) der Bilanzierung von Rechnungsabgrenzungsposten zurzeit eine gewisse Rechtsunsicherheit vorhanden ist, erscheint es erforderlich, die insoweit bestehenden, den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung entsprechenden Ausweisverbote in § 5 EStG ausdrücklich zu verankern“ (zitiert nach Tz. 18). Kann ich hier nicht richtig lesen? Nach dieser Begründung sollte danach mitnichten der Ansatz aller Rechnungsabgrenzungsposten geboten werden, sondern andere Sachverhalte als die explizit im Gesetz genannten nicht als Rechnungsabgrenzungsposten angesetzt werden dürfen – also entgegen der Interpretation des BFH als Ansatzgebot doch eher ein Ansatzverbot.
Interessant sind dann die Ausführungen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, den der BFH im Entscheidungsfall durch den Ansatz eines Rechnungsabgrenzungspostens nicht verletzt sieht. Die hier u.a. vorgenommene Argumentation in Tz. 23, die kein Missverhältnis zwischen Aufwand der Aktivierung und dem zusätzlichen Nutzen im Hinblick auf den Einblick in die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage sieht, lässt sich sicher erst einmal hören. Man hätte diese Argumentation auch bei der Abwägung der Wesentlichkeit fahren können. Pikant ist aber schon, dass im Entscheidungsfall das zuständige Finanzamt mit der Verwaltung der von ihm nachaktivierten Rechnungsabgrenzungsposten dergestalt überfordert war, dass deren später notwendige Auflösung vergessen wurde.
Zurück zur Ausgangssituation: Hätte die zuständige Finanzbehörde keine wichtigeren Fälle gehabt, als geringfügige Beträge zwischen Jahren zu verschieben? Warum entkernt der BFH den Wesentlichkeitsgrundsatz dann auch noch? Sicher, die Bestimmung der Wesentlichkeitsgrenze ist ein schwieriges Thema und die Lösung des BFH enthebt ihn von der Bestimmung im Einzelfall. Dem Problem muss man sich aber in der Bilanzierung weltweit stellen. Und auch der gesetzliche Abschlussprüfer kommt nicht umhin, diese risikobehaftete Entscheidung regelmäßig zu fällen.
Das Urteil lässt mich ratlos zurück. Zum Glück nimmt der BFH keinen direkten Bezug auf § 250 HGB, mithin kann man das Problem handelsrechtlich losgelöst von dieser BFH-Judikatur diskutieren.
Weitere Informationen:
BFH-Urteil v. 16.3.2021 – X R 34/19
Man kann nur hoffen, das die fehlende Bildung von „unwesentlichen“ Rechnungsabgrenzungsposten (wie so oft in der Vergangenheit) von der Finanzverwaltung nicht aufgegriffen wird. Zumindest aus handelsrechtlicher Sicht dürfte hier kein Aktivierungsgebot bestehen. Aus steuerrechtlicher Sicht wird man um wirklich sicher gehen zu können wohl nur auf eine Ergänzung im § 5 Abs. 5 EStG hoffen dürfen. Ob hierfür mit der Wahl die Chancen gestiegen sind wage ich allerdings zu bezweifeln.