Als Grundlage für die kommenden Koalitionsverhandlungen bieten die Wahlprogramme einen nicht zu unterschätzenden Indikator, wie die Steuerpolitik in den nächsten vier Jahren aussehen könnte. Ein genauer Blick lohnt also, um gegen Überraschungen gewappnet zu sein. Im fünften Teil unserer Artikelserie widmen wir uns einigen Randaspekten der Steuerprogramme, die im allgemeinen Wahlkampfgetöse zumeist untergehen, aber hier und da doch ein Schlaglicht auf die Denkweise der Parteien werfen.
Beim Durchblättern der Programme befällt den Leser ab und an das bekannte Déjà-vu-Gefühl. Denn an manchen Stellen fordern die Parteien im Brustton der Überzeugung Maßnahmen, die längst umgesetzt wurden. Teils mag dies daran liegen, dass entsprechende Beschlüsse erst kurz vor Redaktionsschluss der Programme gefasst wurden. So z.B. beim öffentlichen Country-by-Country-Reporting, das SPD und Linke fordern, obwohl sie über das EU-Parlament erst kürzlich in die politische Beschlussfassung eingebunden waren. Andernorts drängt sich aber auch der Eindruck auf, dass einige Dinge schlicht weiter gefordert werden, weil sich damit in der Anhängerschaft punkten lässt. Einige Beispiele:
Die Grünen wollen Cum-ex-Geschäfte beenden, die mittlerweile höchstrichterlich als strafbare Steuerhinterziehung eingestuft wurden. Die FDP will einheitliche und verkürzte Abschreibungsfristen für digitale Wirtschaftsgüter – genau das regelt ein BMF-Schreiben vom 26.02.2021 (wenn auch eigentlich eine gesetzliche Regelung notwendig wäre). Außerdem wollen die Liberalen die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten ermöglichen, was bereits nach geltendem Recht möglich ist (wenn auch nur zu zwei Dritteln und der Höhe nach beschränkt). Die Linke will die Entfernungspauschale durch ein Mobilitätsgeld ersetzen mit gleicher Steuerbegünstigung unabhängig vom Einkommen – dass es für Niedrigverdiener schon eine Mobilitätsprämie mit gleicher Zielsetzung gibt, bleibt unerwähnt.
Die Union läuft dagegen zu einer wahren Hochform auf, Dinge zu fordern, die sie nach 16 Jahren Kanzlerschaft immer noch nicht umgesetzt hat. Dabei handelt es sich um durchweg äußerst erstrebenswerte Punkte: 25% Unternehmenssteuern, bessere Verlustverrechnung, Senkung der Niedrigsteuergrenze, bessere Thesaurierungsbegünstigung, Soli-Komplettabschaffung. Im Fall der Fälle sollte die Wirtschaft die Verhandlungsführer der Union in den Koalitionsverhandlungen mit Nachdruck an diese Passagen erinnern, damit sie nicht als Opfergabe an einen möglichen Koalitionspartner enden.
Wenig beachtet wurden bislang einige interessante Eigenheiten des Steuerprogramms der Grünen. So fordern sie gewissermaßen eine Zementierung der aktuellen Steuerbelastung als Mindestbelastung für alle Ewigkeit. Denn geht es nach ihnen, sollen Veränderungen im Steuerrecht mindestens aufkommensneutral sein. Vor dem Hintergrund rekordhoher Steuerquoten eine deprimierende Aussicht für die Steuerpflichtigen. Auf eine konsequente Anwendung auf das eigene Programm verzichten die Grünen im Übrigen. Denn auch sie fordern kleinere, gelegentlich etwas klischeehafte Steuersenkungen, z.B. für fair gehandelten Kaffee, pflanzliche Milchalternativen oder Reparaturdienstleistungen. Ob zum Ausgleich Kuhmilchfreunde oder der entwicklungspolitisch nur unzureichend geschulte Koffeinjunkie für seinen Griff zum Standardkaffee stärker zur Kasse gebeten werden, bleibt offen.
Wo sonst viel Wert auf einfache, barrierefreie Sprache gelegt wird, überrascht streckenweise die sprachliche Kreativität, mit der Politik verpackt, neudeutsch „geframed“, wird. Wer würde nicht sofort zustimmen, dass ein „Tierschutz-Cent“ auf tierische Produkte zum Stallumbau ebenso moralisch geboten ist wie ein Verbot von Geschäften in modrig-morastigen „Steuersümpfen“. Geradezu altbacken nimmt sich dagegen die SPD aus, die noch „Steueroasen trockenlegen“ möchte, was nach 18 Monaten Corona-Dauerlockdown bei dem einen oder anderen Wähler womöglich eher den Wunsch nach einer überfälligen Fernreise als nach einem Besuch in der kargen Wahlkabine weckt.
Ein sprachliches Highlight ist auch die von den Grünen geforderte neue Rechtsform „Gesellschaft für Verantwortungseigentum“, die seit einiger Zeit sehr aggressiv von einer NGO beworben wird. Nach heftiger Kritik sprechen deren Schöpfer mittlerweile lieber von einer „Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit gebundenem Vermögen“. Dass die Grünen sich einen derartigen Zungenbrecher nicht zu eigen machen und auf der alten Bezeichnung bestehen, ist mehr als nachvollziehbar.
Apropos NGOs: In geschlossener Formation fordern SPD, Grüne und Linke, die steuerliche Gemeinnützigkeit auf diverse politische Aktivitäten zu erweitern. Ziel ist eine Nichtanwendungsgesetzgebung zum ungeliebten Attac-Urteil des BFH. Als uneigennützig oder gar gemeinnützig ist dieser Vorschlag wohl kaum zu bezeichnen. Zu offensichtlich geht es darum, die eigenen politischen Hilfstruppen für künftige Attacken auf den politischen Gegner finanziell hochzurüsten, „Demokratieklausel“ nennt sich das dann.
Für eine Partei, die ernsthaft darüber gestritten hat, ob das Wort „Deutschland“ im Titel des Wahlprogramms vorkommen darf, erstaunlich: Damit Menschen mit (vermeintlich) „hohem Einkommen“ nur ja nicht vor der hohen deutschen Steuer türmen, wird für die Grünen Nationalismus plötzlich zur Tugend und sie fordern eine Steuerpflicht nach Nationalität.
Auch bei der Linken hört, während man sich sonst dem Pazifismus verbunden fühlt, beim Geld der Spaß auf. Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) mit „nicht-kooperativen“ Staaten sollen konsequent gekündigt werden. Allerdings macht man sich gleichzeitig Sorgen um „unfaire DBA“ mit Ländern des globalen Südens, die sollen nämlich beendet werden. Ob man sich da bei einer typischen Südsee-Steueroase nicht in die Zwickmühle manövriert?
Auch ansonsten kennt die Linke kein Pardon, legt die Folterwerkzeuge aber immerhin gut sichtbar auf den Tisch, teilweise sogar mit Preisschildern. Allein aus einer höheren Erbschaftsteuer, der Vermögensteuer und der Vermögensabgabe erhofft man sich pro Jahr Steuermehreinnahmen von ca. 80 Mrd. Euro. Das sind immerhin 10% des gesamten Vorkrisensteueraufkommens des Jahres 2019. Hinzu kämen noch die Einnahmen aus der jeweils kräftig erhöhten Einkommen- und Körperschaftsteuer. An einer Stelle wünscht sich sogar die FDP höhere Steuern: Auf Cannabis, das legalisiert und wie Zigaretten besteuert werden soll. Legalisieren wollen zwar auch SPD, Grüne und Linke, den Steuersäckel haben dabei aber nur die Liberalen im Blick.
Im Kontrastprogramm dazu gefällt sich die AfD als radikaler Steuersenker. Auf der bemerkenswerten Liste der Steuern, die abgeschafft oder nicht eingeführt werden sollen, stehen die Vermögensteuer, die Erbschafts- & Schenkungsteuer, die Grundsteuer, die Gewerbesteuer, die Energiesteuer, die Kaffeesteuer, die Schaumweinsteuer, die Biersteuer, die Zweitwohnungssteuer und die Grunderwerbsteuer beim Erwerb von Immobilien für den Eigenbedarf. Auf ein Preisschild für diese Tabula rasa verzichtet die AfD wohlweislich und belässt es zur Gegenfinanzierung bei einem vagen Hinweis auf ein Steuerreformkonzept des ehemaligen Verfassungsrichters Kirchhoff, nach dem eine Konzentration auf die beiden großen Steuerarten, die Einkommensteuer und die Umsatzsteuer, anzuraten sei.
Zumindest bei den Bagatellsteuern zeigen sich auch andere Parteien großzügig. FDP und Linke wollen ebenfalls die Schaumweinsteuer abschaffen, die FDP zusätzlich die Bier-, Zwischenerzeugnis-, und Kaffeesteuer. Wie auch immer die Wahl also ausgeht, Getränke könnten am Ende tatsächlich billiger werden. „Freibier für alle“ steht aber nicht in Aussicht. Das fordert von Zeit zu Zeit lediglich die Anarchistische Pogo-Partei Deutschland – die aber darf aus formalen Gründen in diesem Jahr nicht an der Bundestagswahl teilnehmen.
Fazit:
Wahlprogramme sind das Ergebnis langer innerparteilicher Kämpfe. Diverse Parteigruppierungen wollen ihre Herzensangelegenheiten prominent platzieren, Parteistrategen das optimale Programm für eine erfolgreiche Kampagne. Am Ende stehen Sammelsurien von 66 (SPD) bis 272 (Grüne) Seiten Umfang. Bei Letzteren ist die Überschrift „Deutschland. Alles ist drin.“ also durchaus wörtlich zu verstehen und es überrascht nicht, dass auch etliche Forderungen Eingang gefunden haben, die außerhalb der Kernwählerschaft erklärungsbedürftig sind. Deutlich stromlinienförmiger kommt das SPD-Programm daher, das bewusst vermeidet, sich im Kleinklein zu verlieren. Die anderen Programme liegen irgendwo dazwischen, wobei Linke und AfD erwartungsgemäß durch die Radikalität ihrer Forderungen auffallen.
Anders als häufig kritisiert wird, unterscheiden sich die steuerpolitischen Teile der Programme stark voneinander. Die Parteien bieten also echte Alternativen, insbesondere bei der Unternehmensbesteuerung und der Besteuerung von Einkommen und Vermögen, und es sind sogar die klassischen Lager erkennbar. Wer sich trotzdem aktuell noch zu den Unentschlossenen rechnet, für den mögen vielleicht die vorliegenden Beobachtungen im Kleingedruckten den letzten Ausschlag für die Entscheidung am 26.09.2021 geben – im Themenfeld von Cannabis- und Sektsteuer über Steuersümpfe bis hin zum reduzierten Mehrwertsteuersatz auf pflanzliche Milchalternativen sollte eigentlich jeder nach seiner Fasson selig werden können.