Der Vorsteueranspruch eines Leistungsempfängers entsteht nach bisherigem Dafürhalten bereits mit der Ausführung der Leistung und nicht erst mit der Entrichtung des Entgelts – vorausgesetzt natürlich, es liegt eine ordnungsgemäße Rechnung vor. Unerheblich ist, ob der Leistende Soll- oder Ist-Versteuerer ist.
Doch mit dieser Auffassung könnte bald Schluss sein, denn der EuGH hat in einem wegweisenden Urteil entschieden, dass die deutsche Regelung gegen EU-Recht verstößt. Art. 167 MwStSystRL sei dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Recht auf Vorsteuerabzug bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht und dieses noch nicht gezahlt worden ist. In Kurzform: Bein Leistungsbezug von Ist-Versteuern darf die Vorsteuer erst bei Zahlung abgezogen werden (EuGH-Urteil vom 10.2.2022, C-9/20, NWB XAAAI-04021).
Zum Hintergrund:
Art. 167 MwStSysRL sieht vor, dass der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers erst entsteht, wenn auch der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Ausnahmen für Leistungen von Ist-Versteuerern sind nicht vorgesehen. Nach deutschem Verständnis hingegen zieht der Leistungsempfänger die Vorsteuer auch dann bereits bei Ausführung der Leistung ab, wenn er diese – zum Beispiel aufgrund einer Stundung – noch nicht bezahlt hat, während der leistende Ist-Versteuerer die entsprechende Steuer noch nicht schuldet. Die Frage der Ist-Versteuerung von Anzahlungen soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden (siehe dazu Abschnitt 13.5 UStAE).
Die Fälle, in denen Leistungsausführungen und Zahlungen zeitlich zum Teil weit auseinanderliegen, treten gerade in der Corona-Pandemie recht häufig auf, etwa bei der Stundung von Miete oder Pacht für Gewerberäume. Ob die deutsche Regelung gegen Unionsrecht verstößt, musste der EuGH aufgrund eines Vorabersuchens des FG Hamburg klären (FG Hamburg, Vorlagebeschluss vom 10.12.2019, 1 K 337/17, NWB YAAAH-40177).
Da für den Steuerpflichtigen günstige Regelungen normalerweise nicht zu Klageverfahren führen und demzufolge auch keine Vorlagen an den EuGH auslösen, bedurfte es einer besonderen Konstellation. Diese war im Streitfall gegeben: Die Klägerin ist eine zur Umsatzsteuer optierende Vermietungsgesellschaft, die ein ihrerseits gemietetes Grundstück weitervermietete. Beiden Vertragsparteien war gestattet, die Steuer nach vereinnahmten Entgelten zu berechnen. Die Mietzahlungen wurden der Klägerin teilweise gestundet, die Vorsteueransprüche machte sie immer erst geltend, wenn die Zahlung erfolgte. Diese Verfahrensweise wurde nach einer Außenprüfung beanstandet und die Vorsteuer nunmehr bereits im Zeitraum der Ausführung des Umsatzes – monatsweise Mietüberlassung – berücksichtigt. Infolge zwischenzeitlich eingetretener Verjährung konnte die Vorsteuer in den Änderungsbescheiden für vergangene Jahre aber teilweise nicht mehr berücksichtigt werden. Hiergegen richtete sich die auf den Unionsrechtsverstoß gestützte Klage.
Die Entscheidung des EuGH:
Der Wortlaut von Art. 167 MwStSystRL ist klar und unzweideutig. Er stellt die allgemeine Regel auf, dass das Recht des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer auf die entsprechende abziehbare Steuer entsteht. Was den Zusammenhang der Vorschrift angeht, ist festzustellen, dass nach Art. 63 MwStSystRL Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird. Nach Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL können die Mitgliedstaaten zwar abweichend von dieser Vorschrift vorsehen, dass der Steueranspruch für bestimmte Umsätze oder Gruppen von Steuerpflichtigen spätestens bei der Vereinnahmung des Preises entsteht („Ist-Versteuerung“). Allerdings stehen die Vorschriften des Art. 66 Abs. 1 Buchst. b und des Art. 167 MwStSystRL miteinander im Einklang. Das heißt: In den Fällen, in denen der Steueranspruch spätestens bei der Vereinnahmung des Preises entsteht, muss auch das Recht auf Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Vereinnahmung des Preises entstehen.
Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Vorbringen der deutschen Regierung, wonach das Recht auf Vorsteuerabzug zu dem Zeitpunkt entstehe, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht werde, und zwar unabhängig davon, dass der Steueranspruch für bestimmte Steuerpflichtige bei der Vereinnahmung des Preises entstehe. Wenn der Unionsgesetzgeber ein solches Ergebnis gewollt hätte, hätte er dies so – und nicht wie derzeit in den genannten Vorschriften ausgeführt – geregelt.
Praxishinweise:
Leistungsempfänger müssen zunächst nicht beunruhigt sein, da sie sich bis auf Weiteres auf die deutsche Regelung berufen können (siehe Abschnitt 15.2 UStAE). Allerdings wird der Gesetz- oder Richtliniengeber wohl früher oder später handeln und die deutsche Auffassung an das Unionsrecht anpassen müssen. Das bedeutet aber neben einem eventuell späteren Vorsteuerabzug für den Leistungsempfänger, dass der Leistende diesem künftig mitteilen muss, ob er selbst Soll- oder Ist-Versteuerer ist. Denn beim Leistungsbezug von Soll-Versteuerern bliebe es auch bei einer unionskonformen Auslegung dabei, dass der Vorsteueranspruch mit Leistungsausführung entsteht – eine ordnungsgemäße Rechnung natürlich immer vorausgesetzt. Ob der Leistungsempfänger die Umsatzsteuer seinerseits nach vereinnahmten oder vereinbarten Entgelten berechnet, ist unerheblich.
Positiv ist die EuGH-Entscheidung in Sachverhalten wie im Streitfall, also bei einer aus deutscher Sicht verspäteten Geltendmachung des Vorsteueranspruchs. Falls die Steuerfestsetzungen für den Zeitraum des Leistungsempfangs nicht mehr änderbar sind, so können sich betroffene Unternehmer nun unmittelbar auf das Unionsrecht, also das aktuelle EuGH-Urteil, berufen.
Der EuGH hat sich in jüngster Zeit nun zweimal mit der Frage des Besteuerungs- bzw. des Vorsteuerabzugszeitraums befasst. Das EuGH-Urteil vom 28.10.2021 (C-324/20) lautete: Bei der Berechnung der Steuer nach vereinbarten Entgelten entsteht die Umsatzsteuer in voller Höhe bereits mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen ausgeführt worden sind. Das gilt unabhängig davon, ob die für diesen Umsatz geschuldete Gegenleistung bereits entrichtet worden ist. Daher schuldet der Leistende dem Finanzamt den vollen Umsatzsteuerbetrag auch dann sofort, wenn er mit dem Leistungsempfänger eine Ratenzahlung vereinbart hat:
Insgesamt scheint sich damit eine Tendenz abzuzeichnen, dass sich der EuGH zunehmend am reinen Wortlaut der MwStSystRL orientiert und die Grenzen für Ausnahmen enger setzt.