Mitte 2019 ist das “Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch” in Kraft getreten. Mit dem genannten Gesetz haben die Familienkassen eigene Prüfungskompetenzen erhalten, um Missbrauch von Kindergeld bzw. dessen Bezug zu verhindern. Neu nach Deutschland zugezogene EU-Bürgerinnen und -Bürger sind im Übrigen in den ersten drei Monaten vom Leistungsbezug ausgeschlossen, sofern sie keine inländischen Einkünfte erzielen (§ 62 Abs. 1a Satz 1 EStG). Das FG Bremen hatte frühzeitig Bedenken gegen den dreimonatigen Kindergeldausschluss angemeldet. Mit Vorlagebeschluss vom 20.8.2020 (2 K 99/20) hatte es ein entsprechendes Verfahren ausgesetzt und den EuGH um Klärung gebeten.
Ganz unabhängig davon hatte das FG Münster entschieden, dass die dreimonatige Sperrfrist für zugezogene EU-Ausländer nach § 62 Abs. 1a EStG nicht gilt, wenn bereits vor Begründung des inländischen Wohnsitzes ein Kindergeldanspruch bestand (Urteil vom 10.12.2020, 8 K 2975/20 Kg).
In der Bremer Sache liegt nun die Entscheidung des EuGH vor:
Wenig überraschend hält er die deutsche Regelung für EU-rechtswidrig. Ein Unionsbürger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründet hat, dürfe nicht deshalb während der ersten drei Monate seines Aufenthalts vom Bezug von Kindergeld ausgeschlossen werden kann, weil er hier keine Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit bezieht (EuGH-Urteil vom 1.8.2022, C-411/20/curia.europa.eu/).
Im zugrundeliegenden Fall ging es um den Antrag einer bulgarischen Staatsangehörigen auf Gewährung von Kindergeld für die Monate August bis Oktober 2019. Dieser wurde abgelehnt, da sie in diesem Zeitraum nicht erwerbstätig war. Doch der EuGH hält diese Ablehnung für unzulässig.
Jeder Unionsbürger, auch wenn er wirtschaftlich nicht aktiv ist, habe das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten hat, solange er und seine Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. In diesem Fall sei ihr Aufenthalt grundsätzlich rechtmäßig. Während dieser Zeit genießen die Unionsbürger vorbehaltlich vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen die gleiche Behandlung wie Inländer.
Der Aufnahmemitgliedstaat könne zwar einem wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts eine Sozialhilfeleistung verweigern. Das Kindergeld stelle aber keine Sozialhilfeleistung im Sinne dieser Ausnahmebestimmung dar. Es werde nämlich unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit seines Empfängers gewährt und diene nicht der Sicherstellung seines Lebensunterhalts, sondern dem Ausgleich von Familienlasten. Da hinsichtlich solcher Familienleistungen eine Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Inländern und Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats nicht vorgesehen ist, stehe das Unionsrecht der vom deutschen Gesetzgeber eingeführten Ungleichbehandlung entgegen. Auf die Gleichbehandlung könne sich der betreffende Unionsbürger allerdings nur berufen, wenn er während der fraglichen ersten drei Monate tatsächlich seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Aufnahmemitgliedstaat begründet hat. Ein nur vorübergehender Aufenthalt genüge insoweit nicht.
Denkanstoß:
Auch wenn ich die Intention des deutschen Gesetzgebers durchaus nachvollziehen kann, so bleibt bei mir dennoch ein Störgefühl, wenn es immer wieder heißt, dass das Kindergeld wie eine Sozialleistung wirkt. In anderen Ländern werden Leistungen für Kinder als Investition betrachtet und nicht als Sozialleistung. Gut, dass der EuGH das ebenso sieht.
Übrigens wurde der deutsche Staat soeben nicht nur vom EuGH, sondern auch vom Bundesverfassungsgericht gescholten. Der Ausschluss ausländischer Staatsangehöriger mit humanitären Aufenthaltstiteln vom Kindergeld war verfassungswidrig. Es ging in dem Verfahren um § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG in der Fassung des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13.12.2006 (EStG 2006). Diese Vorschrift sah in der dem BVerfG vorgelegten Fassung vor, dass Staatsangehörige der meisten Nicht-EU-Staaten, denen der Aufenthalt in Deutschland aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erlaubt ist, nur dann einen Anspruch auf Kindergeld haben, wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten und zusätzlich bestimmte Merkmale der Arbeitsmarktintegration erfüllen, das heißt entweder im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig sind, Arbeitslosengeld I beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen.
Nach Einleitung des Vorlageverfahrens wurde § 62 Abs. 2 EStG mit Wirkung zum 1.3.2020 geändert. Nach dem in die Vorschrift neu eingefügten § 62 Abs. 2 Nr. 4 EStG erhält ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer Kindergeld, wenn er einen der in Nr. 2 Buchstabe c genannten humanitären Aufenthaltstitel besitzt und sich seit mindestens 15 Monaten erlaubt, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält; auf eine Integration in den deutschen Arbeitsmarkt kommt es in dieser Variante nicht mehr an. Einzelheiten dazu in der NWB Online-Nachricht (NWB MAAAJ-18918).