Ist ein Kind wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, wird den Eltern Kindergeld auch über das 25. Lebensjahr des Kindes hinaus gewährt. Voraussetzung ist, dass die Behinderung bereits vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist. Früher galt eine Altersgrenze von 27 Jahren. Im Jahre 2021 hat der BFH dargelegt, wie die Fähigkeit zum Selbstunterhalt rechnerisch zu ermitteln ist, also welche Einkünfte und Bezüge dem Kind als eigene Mittel für seinen Unterhalt zuzurechnen sind und welche Beträge abgezogen werden dürfen (BFH-Urteil vom 27.10.2021, III R 19/19). Insofern kann auf den Blog-Beitrag „Kindergeld für Kinder mit Behinderung: Wie der BFH den Selbstunterhalt prüft“ verwiesen werden.
Nun war der BFH wieder an der Reihe. Dieses Mal ging es um die Frage, ob die Einzahlung der Eltern in einen privaten Versicherungsvertrag, der dem Kind zugutekommt, für das Kindergeld schädlich ist. Besser gesagt: Es war zu entscheiden, ob die Rente, die das Kind aus dem Vertrag bezieht, in voller Höhe oder nur mit dem Ertragsanteil für die Beurteilung des Kindergeldanspruchs anzusetzen ist.
Die Antwort der BFH lautet: Bezieht ein behindertes volljähriges Kind eine Rente, die durch Vermögensumschichtung begründet wurde – hier: Einzahlung der dem Kind von einem Kindergeldberechtigten zweckgebunden zugewandten Mittel in einen privaten Versicherungsvertrag –, so sind die den Ertragsanteil übersteigenden Teile der Rentenzahlungen nicht als Bezug zu berücksichtigen (BFH-Urteil vom 16.2.2023, III R 23/22).
Der Sachverhalt:
Der im Jahr 1961 geborene Sohn des Klägers ist seit 1980 aufgrund einer seelischen Störung behindert; ab 1.1.2018 wurde ein Grad der Behinderung von 80 festgestellt. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit scheidet aus. Im Juli 2020 teilte der Kläger der Familienkasse mit, dass sein Sohn eine Rente und zudem Einkünfte aus Kapitalvermögen beziehe. Die Rente wird lebenslänglich aufgrund eines Vertrages gezahlt, auf den der Sohn zum Vertragsbeginn (1.1.2017) einen Einmalbeitrag in Höhe von 400.000 Euro entrichtet hatte. Dazu verwendete er rund 380.000 Euro, die nach dem Tode seiner Mutter auf sein Konto überwiesen worden waren und mit denen er aufgrund einer testamentarischen Zweckbindung eine private Rentenversicherung zu begründen hatte.
Die Familienkasse hob daraufhin die Kindergeldfestsetzung auf, weil der Sohn seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten könne. Bei ihrer Berechnung setzte die Familienkasse die Renten aus dem privaten Versicherungsvertrag in voller Höhe und nicht nur mit dem Ertragsanteil an. Renten- und Versorgungsbezüge seien stets in vollem Umfang einzubeziehen. Auch der über den steuerpflichtigen Ertragsanteil hinausgehende Rentenbezug sei für die Beurteilung des Kindergeldanspruchs zu berücksichtigen. Die hiergegen gerichtete Klage war aber erfolgreich; die Revision der Familienkasse hat der BFH zurückgewiesen.
Die Begründung des Urteils lautet:
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Die Fähigkeit zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits.
Zu den finanziellen Mitteln des behinderten volljährigen Kindes gehören seine Einkünfte und Bezüge, das heißt grundsätzlich alle Mittel, die zur Deckung seines Lebensunterhalts geeignet und bestimmt sind und ihm im maßgeblichen Zeitraum zufließen, nicht jedoch sein Vermögen.
Vermögensübertragungen von Eltern auf ihre Kinder sind bei der Ermittlung der Bezüge des Kindes stets außer Betracht zu lassen. Als Bezüge anzusetzen sind allein Zuflüsse „von außen“, sofern sie zur Finanzierung des Unterhalts oder der Berufsausbildung geeignet oder bestimmt sind. Vom Kind bezogene Renten gehören zwar mit dem Besteuerungs- oder Ertragsanteil zu dessen Einkünften; der steuerfreie Teil ist zudem grundsätzlich als Bezug anzusetzen und bei Beurteilung des Kindergeldanspruchs zu berücksichtigen. Der den Ertragsanteil übersteigende Teil der Rentenzahlungen ist jedoch nicht als Bezug zu erfassen, wenn der Rentenanspruch durch eine Vermögensumschichtung begründet wurde. Soweit es sich bei Rentenzahlungen nicht um vom Versicherer erwirtschaftete Erträge handelt, sondern das Kind lediglich bereits vorher vorhandenes Vermögen zurückerhält, das heißt vom Kind oder einem Kindergeldberechtigten zuvor angesparte Mittel, handelt es sich nicht um Bezüge, aus denen das Kind seinen Unterhalt zu decken hat.
Denkanstoß:
Das Urteil ist erfreulich – vor allem auch, weil der BFH in sehr kurzer Zeit entschieden hat, das heißt zwischen Einlegung der Revision durch die Familienkasse und dem Urteil des BFH sind nur wenige Monate vergangen.
Betroffene Eltern sollten die aktuelle Entscheidung wie auch das eingangs erwähnte Urteil vom 27.10.2021 sowie gegebenenfalls das BFH-Urteil vom 15.12.2021 (III R 48/20) studieren, wenn es um die kindergeldrechtliche Frage geht, ob ihr Kind in der Lage ist, sich selbst zu unterhalten.