Für ein Kind, das das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat, werden das Kindergeld oder der Kinderfreibetrag gewährt, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist. Früher galt eine Altersgrenze von 27 Jahren.
Die Vorschrift des § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG mit ihrer starren Altersgrenze kann im Einzelfall zu höchst ungerechten oder fragwürdigen Ergebnissen führen und berücksichtigt menschliche Schicksale dann nur unzureichend oder gar nicht. So jüngst geschehen in einem Fall, über den der BFH mit Urteil vom 27.11.2019 (III R 44/17) entschieden hat.
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist der Vater einer im August 1968 geborenen Tochter, die an einer Muskelerkrankung in Form der Myotonen Dystrophie Curschmann Steinert leidet. Trotz erster Symptome im Alter von ca. 15 Jahren wurde die Erkrankung zunächst nicht erkannt. Die Diagnose erfolgte erst 1998. In der Folgezeit verstärkte sich die Muskelschwäche und es wurde im Jahr 2005 zunächst ein Grad der Behinderung von 50 und im Jahr 2009 von 100 festgestellt. Die Tochter absolvierte eine Berufsausbildung und befand sich bis 2010 in einem Beschäftigungsverhältnis. Ab Oktober 2011 erhielt sie eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der Kläger beantragte 2014, ihm für seine Tochter ab Januar 2010 Kindergeld zu gewähren. Dies lehnte die Familienkasse unter Hinweis darauf ab, dass die Behinderung nicht vor Vollendung des (damals noch maßgebenden) 27. Lebensjahres eingetreten sei. Der BFH hat diese Auffassung im Grundsatz bestätigt, die Sache aber an die Vorinstanz zurückverwiesen.
Die Begründung der obersten Finanzrichter:
Der Behinderungsbegriff erfordert eine für das Lebensalter untypische gesundheitliche Situation, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt. Nicht ausreichend ist es dagegen, wenn vor Erreichen der Altersgrenze (25. bzw. 27 Lebensjahr) eine Behinderung zwar droht, aber noch nicht eingetreten ist.
Der BFH hielt die bisherigen Feststellungen des Finanzgerichts für nicht ausreichend. Dieses müsse nun nähere Feststellungen dazu treffen, ob der Gendefekt bereits vor Erreichen der Altersgrenze zu Funktions- und Teilhabebeeinträchtigungen bei der Tochter des Klägers geführt hatte.
Hinweis
Der BFH nimmt damit eine strenge Sichtweise ein. Die Vorinstanz hingegen hatte zugunsten des Klägers wie folgt geurteilt: Ein Kind mit einem angeborenen Gendefekt (hier Myotone Dystrophie Curschmann-Steinert) ist auch dann als Kind i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen, wenn die behinderungsbedingte Unfähigkeit des Kindes, sich selbst zu unterhalten, erst nach dem 27. Lebensjahr eingetreten ist (FG Köln, Urteil vom 12.1.2017, 6 K 889/15).