Eltern wird das Kindergeld für ein behindertes Kind ohne Altersbegrenzung gewährt, wenn das Kind wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Voraussetzung ist, dass die Behinderung bereits vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG). Der BFH musste sich nun mit der Frage befassen, ob eine mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt auch dann gegeben sein kann, wenn das Kind nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht ist. Um es vorweg zu nehmen: Der BFH hat den Kindergeldanspruch bejaht (BFH-Urteil vom 30.1.2024, III R 42/22).
Das Urteil soll nachfolgend kurz vorgestellt werden, weil der BFH einen kleinen Rechtsschwenk zugunsten der Eltern vorgenommen hat. Oder um es mit seinen Worten zu sagen: „Die Rechtsprechungsgrundsätze zur Kausalität der Behinderung für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt sind …. fortzuentwickeln und zu präzisieren.“
Der Sachverhalt:
Der Sohn der Klägerin leidet seit etwa seinem 14. Lebensjahr an einer hebephrenen Schizophrenie. Dies äußerte sich durch expansiv-aggressives Verhalten. Wegen der psychischen Erkrankung wurden ein Grad der Behinderung von 80 und das Merkmal „H“ für Hilflosigkeit festgestellt. Nach mehreren Übergriffen bis hin zur körperlichen Gewalt wurde der Sohn aufgrund eines Gerichtsurteils in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Bei den rechtswidrigen Körperverletzungen handelte das Kind jeweils ohne Schuld, weil seine Steuerungsfähigkeit infolge der schizophrenen Erkrankung aufgehoben war. Die (einstweilige) Unterbringung in dem psychiatrischen Krankenhaus erfolgte gemäß § 63 StGB. Die Mutter und die Familienkasse stritten im Anschluss um das Kindergeld, konkret um die Frage, ob das Kind aufgrund seiner Behinderung mit der anschießenden zwangsweisen Unterbringung in dem Krankenhaus außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Der BFH ist der Auffassung, dass der Sohn auch während der vom Gericht angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus als behindertes Kind gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist.
Die Begründung:
Grundsätzlich bestehe für behinderte Kinder, die sich in Strafhaft befinden, zwar kein Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG (z.B. BFH-Urteil vom 30.4.2014, XI R 24/13, BStBl II 2014, 1014, Rz 31). Gleiches gelte für behinderte Kinder, die wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind (BFH-Beschluss vom 25.2.2009, III B 47/08). Während der Haft sei ein Kind unabhängig davon, ob es behindert ist oder nicht, grundsätzlich außerstande, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen; in diesen Fällen stehe nicht die Behinderung eines Kindes der Ausübung einer Erwerbstätigkeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts entgegen, sondern die Inhaftierung. Etwas anderes könne aber gelten, wenn die Unterbringung nach § 63 StGB neben einer Verurteilung ausgesprochen wird. Der Sohn war bereits vor der (einstweiligen) Unterbringung wegen seiner schweren seelischen Behinderung außerstande, sich selbst zu unterhalten. Es sei dem Umstand besondere Bedeutung zugemessen, dass er nicht im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB), sondern ohne Schuld gehandelt hat (§ 20 StGB), da seine Steuerungsfähigkeit aufgrund der seelischen Erkrankung, die zugleich die Behinderung begründet, bei der Begehung der Taten aufgehoben war.
Denkanstoß:
Bereits mehrfach habe ich im Rahmen des NWB Experten-Blogs übrigens Urteile zum Thema „Kindergeld für behinderte Kinder “ vorgestellt, beispielsweise:
- Kindergeld für Kinder mit Behinderung: Wie der BFH den Selbstunterhalt prüft
- Kindergeld für Kinder mit Behinderung: Abermals Schlappe für die Familienkasse
- Erwerbsunfähigkeit eines behinderten Kindes: Der Gutachter kann auch Diplom-Psychologe sein
Auch das aktuelle Urteil zeigt, dass es sich für betroffene Eltern durchaus lohnen kann, den finanzgerichtlichen Weg einzuschlagen und nicht jede Entscheidung der Familienkasse hinzunehmen.