Halbierter tariflicher Nachtzuschlag für Schichtarbeit: BVerfG korrigiert das BAG!

Das BVerfG (Beschluss v. 11.12.2024 – 1 BvR 1109/21 und 1 BvR 1422/23, veröffentlicht am 19.2.2025) hat unter Berufung auf den Schutz der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) den Verfassungsbeschwerden von zwei Arbeitgebern stattgegeben, die sich insbesondere gegen die vom BAG zuerkannte Zahlung höherer als der tariflich vereinbarten Nachtzuschläge wenden, und gleichzeitig die Verfassungsbeschwerden der Verbände verworfen, die die betroffenen Tarifnormen vereinbart hatten.

Worum ging es?

Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen zwei Urteile des BAG (9.12.2020 – 10 AZR 335/20 und vom22.3.2023 – 10 AZR 600/20) Dieses verurteilte die beschwerdeführenden verbandsangehörigen Arbeitgeberinnen jeweils zur Zahlung höherer als tarifvertraglich vereinbarter Zuschläge an die in Nachtschichtarbeit beschäftigten Kläger der Ausgangsverfahren. Die differenzierenden Nachtarbeitszuschlagsregelungen seien mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und die tariflichen Zuschlagsregelungen in der Folge „nach oben anzupassen“. Die Verbände, deren Tarifnormen für mit der Verfassung unvereinbar befunden wurden, waren im Verfahren vor den Arbeitsgerichten nicht beteiligt.

Entscheidungen des BAG

Das BAG (10 AZR 335/20 und 10 AZR 600/20) hatte die beschwerdeführenden verbandsangehörigen Arbeitgeber jeweils zur Zahlung höherer als tarifvertraglich vereinbarter Zuschläge an die in Nachtschichtarbeit beschäftigten Kläger der Ausgangsverfahren verurteilt. Die differenzierenden Nachtarbeitszuschlagsregelungen seien mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar und die tariflichen Zuschlagsregelungen in der Folge „nach oben anzupassen“; der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bilde als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG). Der Schutzauftrag der Verfassung verpflichte die Gerichte dazu, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden und entsprechenden Regelungen die Durchsetzung zu verweigern. Die Verbände, deren Tarifnormen für mit der Verfassung unvereinbar befunden wurden, waren im Verfahren vor den Arbeitsgerichten nicht beteiligt. Gegen die BAG-Entscheidungen wandten sich durch Verfassungsbeschwerde sowohl die unterlegenen Arbeitgeber, die in den BAG-Urteilen einen Verstoß gegen die Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG) sehen, als auch die am Verfahren nicht unmittelbar beteiligten Tarifparteien.

Entscheidungen des BVerfG

Das BVerfG hat jetzt die BAG-Urteile aufgehoben und an das BAG zurückverwiesen. Das das BVerfG nur einen möglichen Verfassungsverstoß prüfen, aber keine Sachentscheidung treffen kann, muss jetzt das BAG die Fälle erneut unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Auslegung des BVerfG entscheiden.

Die Beschwerden der Verbände hat das BVerfG schon für unzulässig erklärt, wonach der Grundsatz der Subsidiarität nicht beachtet sei: Vor einer Verfassungsbeschwerde als „ultima ratio“ muss danach ein Beschwerdeführer zunächst alle zumutbaren anderen Mittel ausschöpfen, bevor er sich an das BVerfG wenden kann. Das Verfahren nach § 9 Tarifvertragsgesetz (TVG) eröffne für die Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, die Rechtswirksamkeit tariflicher Regelungen frühzeitig mit verbindlicher Wirkung für die Normunterworfenen losgelöst vom Einzelfall klären zu lassen. Von dieser Möglichkeit haben die beschwerdeführenden Verbände als Parteien der verfahrensgegenständlichen Tarifverträge keinen oder jedenfalls nicht rechtzeitig Gebrauch gemacht.

Die BAG-Urteile verletzen aber die Arbeitgeber in ihrem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG (Tarifautonomie). Die BAG-Auslegung, wonach die tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen über die Nachtschichtarbeit mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar seien und auf Rechtsfolgenebene die Zuschlagsregelungen zur Nachtarbeit Anwendung fänden („Anpassung nach oben“), berücksichtigt die Koalitionsfreiheit nicht in verfassungsrechtlich zutreffender Weise. Zwar müssen die in kollektiver Privatautonomie handelnden Tarifvertragsparteien bei der Tarifnormsetzung den Grundsatz der Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG beachten. Die Bindung an den Gleichheitssatz erfordert danach zugleich den Zweck der Tarifautonomie, eine grundsätzlich autonome Aushandlung der Tarifregelungen zu ermöglichen, und den damit einhergehenden Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen. Dies begrenzt die richterliche Kontrolldichte. Bei der Prüfung der Tarifverträge hat das BAG diese Bedeutung der Tarifautonomie aus Art. 9 Abs. 3 GG für die Reichweite dieser Bindung an Art. 3 Abs. 1 GG wie auch für die Folgen seiner Verletzung nicht ausreichend beachtet.

Erste Bewertung und Einordnung

Wer auf die kaum mehr überschaubare Vielzahl von BAG-Verfahren der jüngeren Vergangenheit zu tarifvertraglichen Regelungen zu Nachtarbeitszuschlägen, Feiertags- und Sonntagszuschlägen blickt erahnt, welch ungeheure praktische Breitenwirkung die mit 232 Randziffern sehr gründlich begründeten BVerfG-Entscheidungen in der praktischen Umsetzung der Arbeitsgerichte nun  haben werden. Das BAG, bei dem noch zahlreiche weitere Verfahren anhängig sind, wird seinen „Kompass“ bei der Bestimmung von Inhalt und Grenzen der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) auch in Ansehung konfligierender Grundrechte neu ausrichten müssen. Jedenfalls ist die BVerfG-Erkenntnis ein wichtiger neuer Orientierungspunkt auch für Reichweite und Grenzen der Tarifautonomie.

Weitere Informationen:
BVerfG-Pressemitteilung Nr.17/2025 v. 19.2.2025

 

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