EuGH erweitert Arbeitnehmerrechte bei Erholungsurlaub

Es ist ein Massenphänomen: Rund jeder dritte Beschäftigte in Deutschland verzichtet nach einer DGB-Umfrage regelmäßig auf Urlaubstage. Die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes, aber auch eine sehr hohe Arbeitsbelastung, sind meist die Ursachen. Nach der gesetzlichen Regelung (§ 7 Abs. 3 S. 1 BurlG) muss Urlaub grundsätzlich im laufenden Kalenderjahr genommen werden, andernfalls verfällt er. Eine Übertragung in das nächste Jahr ist nur bei dringenden betrieblichen oder in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen statthaft. Der Urlaub muss dann in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden.

Diese Verfallgrenze des 31. März gilt seit einem Urteil des EuGH aus dem Jahr 2009 bei langwierigen Erkrankungen nicht (C-350/06; C-520/06). Infolgedessen hat 2012 das BAG entschieden, dass ein Anspruchsverfall erst 15 Monate nach Ende des eigentlichen Urlaubsjahres beim gesetzlich vorgegeben Mindesturlaub eintritt (BAG: 9 AZ R 623/10). Mit mehreren aktuellen Urteilen hat der EuGH jetzt aber die Arbeitnehmerrechte in Bezug auf Erholungsurlaub deutlich erweitert.

Worum ging es in den Streitfällen?

In einem Fragenkomplex ging es in zwei Arbeitsverhältnissen bei einem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber (OVG Berlin-Brandenburg v. 14.09.2016 – OVG 4 B 38.14) und einem privaten Arbeitgeber (BAG v. 13.12.2016 – 9 AZR 541/15) um eine finanzielle Vergütung für nicht genommene Urlaubstage (EuGH v. 06.11.18, C-619/16 und C-684/16). Konkret lautete die Frage, ob ein Arbeitnehmer seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub automatisch verliert, weil er keinen Urlaub beantragt hat.

Im anderen Fragenkomplex ging es auf Vorlage des BAG (v. 18.10.2016 – 9 AZR 196/16) darum, ob der Erbe eines Arbeitnehmers die Abgeltung von Urlaubsansprüchen verlangen kann, die im laufenden Arbeitsverhältnis vor dem Tod des Erblassers nicht mehr gewährt werden konnten oder ob der Anspruch eines Arbeitnehmers mit seinem Tod erlischt (EuGH v. 06.11.18 – C-569/16 und C-570/16).

EuGH urteilt arbeitnehmerfreundlich

In seinen jüngsten Urteilen hat der EuGH jetzt die Arbeitnehmerrechte bei bezahltem Jahresurlaub deutlich gestärkt: Ein Arbeitnehmer darf danach seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahres-(Mindest)Urlaub nicht automatisch deshalb verlieren, weil er keinen Urlaub beantragt hat (EuGH C-619/16 und C-684/16).

Bislang war anerkannt, dass der Arbeitnehmer einen Urlaubsantrag stellen muss, um seinen Anspruch nicht einzubüßen. Dem hat der EuGH jetzt widersprochen: Die EU-Grundrechtecharta und die EU-Arbeitszeitrichtlinie lassen nicht zu, dass ein Arbeitnehmer die ihm hiernach zustehenden Urlaubstage bzw. an deren Stelle den Anspruch auf finanzielle Vergütung für nicht genommenen Urlaub „automatisch“ schon allein deshalb verliert, weil vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder im Bezugsraum kein Urlaub beantragt worden war. Weil der Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis die „schwächere Partei“ sei, verpflichtet der EuGH den Arbeitgeber „konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen“. Deshalb müsse der Arbeitgeber seine Angestellten nachweisbar „klar und rechtzeitig“ darauf hinweisen, dass der Urlaub andernfalls verfällt. Weißt der Arbeitgeber allerdings nach, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Sachlage darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, steht auch das Unionsrecht dem Anspruchsverlust und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – dem entsprechenden Wegfall einer finanziellen Vergütung nicht im Wege. Wie der EuGH weiter klarstellt, gelten diese Grund-sätze unabhängig davon, ob es sich um einen öffentlichen Arbeitgeber handelt oder einen privaten Arbeitgeber.

Urlaub ist vererblich

Klarheit schafft der EuGH in den anderen Verfahren auch in Bezug auf die Vererblichkeit von Ansprüchen bei Urlaub, den der Arbeitnehmer wegen Tod nicht mehr abnehmen konnte (EuGH v. 06.11.18 C-569/16 und C-570/16). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG geht der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers mit dessen Tod unter, ohne dass gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG ein Abgeltungsanspruch entsteht (BAG v. 12.03.2013 – 9 AZR 532/11; BAG v. 20.09.2011 – 9 AZR 416/10).

Wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers endet, besteht folglich nach Ansicht BAG kein Abgeltungsanspruch, der im Wege der Rechtsnachfolge (§ 1922 Abs. 1 BGB) auf die Erben übergehen könnte. Nur wenn das Arbeitsverhältnis vor dem Ableben des Arbeitnehmers endet, kann nach bisheriger Ansicht des BAG ein Abgeltungsanspruch für nicht mehr gewährten Urlaub entstehen und Teil der Erbmasse werden (BAG v. 22.09.2015 – 9 AZR 170/14). Der EuGH hatte das schon 2014 anders gesehen (EuGH v. 12.06.2014 – C-118/13 „Bollacke“) und das nunmehr abermals bekräftigt. Danach gilt jetzt: der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub und auf Abgeltung desselben geht nicht mit seinem Tod unter! Erben eines verstorbenen Arbeitnehmers können also eine finanzielle Vergütung für den vom Verstorbenen nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub verlangen. Und: Soweit das deutsche Recht einen solchen Anspruch ausschließt, können sich die Erben unmittelbar auf das für sie günstigere Unionsrecht (Art. 7 ArbeitszeitRL 2003/88/EG; Art. 31 Abs.2 EUGrdRCh) berufen. Auch dies gilt unabhängig davon, ob ein öffentlicher oder ein privater Arbeitgeber betroffen ist.

Folgen für die Praxis

Was hat diese EuGH-Rechtsprechung nun für konkrete praktische Folgen? Zunächst sind die Urteile aus Arbeitnehmersicht unbedingt ein Gewinn: Sie müssen also für ihren Resturlaub keinen ausdrücklichen Urlaubsantrag stellen, um nicht den Anspruch im Übertragungszeitraum einzubüßen. Allerdings verliert der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, wenn das Unternehmen ihn klar und rechtzeitig darauf hinweist, dass der Urlaub nach Ablauf des Übertragungszeitraums unwiderruflich verfällt, wenn kein Urlaubsantrag gestellt wird. Die Beweislast hierfür trägt allerdings der Arbeitgeber. Ferner haben beim Tod eines Arbeitnehmers darüber hinaus die Erben einen Anspruch auf finanzielle Abgeltung nicht genommener Urlaubstage, und zwar auch dann, wenn das Arbeitsverhältnis beim Tod noch nicht beendet war. Das BAG wird also seine Rechtsprechung anpassen müssen.

Aus Sicht der Unternehmen sind die neuen EuGH-Urteile ein Paukenschlag, der zum Handeln zwingt: Arbeitgeber müssen deutlich aktiver werden als bisher. Sie müssen klare Spielregeln formulieren und ihren Arbeitnehmern mitteilen, bis wann etwaiger Resturlaub zu beantragen ist und ab wann er verfällt. Diese „Belehrung“ kann meines Erachtens auch kollektiv erfolgen; nicht jeder Mitarbeiter muss also individuell über den Zwang zur Urlaubsabnahme informiert werden. Was hierbei im Einzelnen aus Arbeitgebersicht zu beachten ist, muss jetzt das BAG konkretisieren.

Auch für die Bilanzierung der Unternehmen haben die EuGH-Urteile weitreichende Bedeutung: Für nicht abgenommene Urlaubstage, die noch nicht verfallen sind und für finanzielle Abgeltungsansprüche haben Arbeitgeber nämlich Rückstellungen zu bilden (§ 249 HGB). Die EuGH-Urteile werden für die Unternehmen also auch zu einem erhöhten Rückstellungsaufwand führen – ganz schön teuer!

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