Eltern wird das Kindergeld für ein behindertes Kind ohne Altersbegrenzung gewährt, wenn das Kind wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Voraussetzung ist, dass die Behinderung bereits vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
Im Jahre 2020 hatte das FG Rheinland-Pfalz zugunsten des Vaters eines behinderten Kindes entschieden, dass das Gericht die Erwerbsfähigkeit des Kindes anhand der vom Kläger vorgelegten Berichte und Stellungnahmen der behandelnden Ärzte beurteilen kann, wenn diese Gutachten im Gegensatz zu denen der Familienkasse bzw. der Reha/SB-Stelle der Agentur für Arbeit schlüssig bzw. nachvollziehbar sind. Die Familienkasse jedenfalls darf nicht einfach auf das Gutachten der Agentur für Arbeit verweisen – zumindest dann nicht, wenn das Gutachten Lücken aufweist (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 6.5.2020, 2 K 1851/18).
In einem Verfahren vor dem FG Hamburg ging es nun um die Frage, ob der Nachweis einer seelischen Behinderung und der behinderungsbedingten Unfähigkeit zum Selbstunterhalt auch durch Einholung eines Sachverständigengutachtens eines Diplom-Psychologen und Psychologischen Psychotherapeuten erfolgen kann. Die Antwort: Ja, das ist möglich. Der Gutachter muss kein Arzt sein (FG Hamburg, Urteil vom 23.2.2023, 5 K 191/19).
Der Sachverhalt:
Da der Sachverhalt recht komplex war, gebe ich ihn nachfolgend etwas verkürzt wieder: Bei der Tochter der Klägerin wurde im Jahr 2015 ein Schilddrüsen-Tumor erkannt und daraufhin die Schilddrüse entfernt. Im Juli 2016 wurde ein Tumor in der Brust diagnostiziert, der sich jedoch als gutartig herausstellte. Die Tochter erzielte im Zeitraum Oktober 2016 bis Oktober 2017 monatlich maximal Einkünfte von 450 Euro. Eine Ausbildung hatte die Tochter nicht beenden können. Das Versorgungsamt stellte (erst) ab September 2018 einen Grad der Behinderung von 50 fest. Die Familienkasse hob daraufhin die Kindergeldfestsetzungen für die Vormonate auf. Eine Behinderung sei nur für den Zeitraum ab September 2018 nachgewiesen. Für die Zeit davor sei eine Ursächlichkeit einer (möglichen) Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt nicht festzustellen. Die Klägerin machte hingegen geltend, dass bei ihrer Tochter aufgrund der Krebserkrankung eine Depression eingetreten sei.
Das Gericht holte daraufhin ein Sachverständigengutachten zur Frage des Vorliegens einer Behinderung und der möglichen Ursächlichkeit einer solchen für die Fähigkeit zum Selbstunterhalt ein. Nach dem Gutachten litt die Tochter bis einschließlich Oktober 2017 unter einer psychischen Störung (Neurose, mittelgradige depressive Episode). Die Familienkasse wollte das Gutachten indes nicht akzeptieren. Es sei ungeeignet, da der Gutachter lediglich Psychologe, nicht aber Arzt sei. Letztlich war die Klage teilweise erfolgreich und der Anspruch auf Kindergeld wurde für den Zeitraum Oktober 2016 bis einschließlich Oktober 2017 zuerkannt.
Die Begründung:
Auch die Begründung möchte ich nur in Kurzform darstellen: Der Nachweis der Behinderung kann nicht nur durch Vorlage eines entsprechenden Schwerbehindertenausweises oder Feststellungsbescheids gemäß § 69 SGB IX sowie eines Rentenbescheids erfolgen, sondern auch in anderer Form erbracht werden. In Betracht kommt beispielsweise die Vorlage einer Bescheinigung bzw. eines Zeugnisses des behandelnden Arztes oder auch eines ärztlichen Gutachtens. Angesichts der vorhandenen theoretischen und praktischen Kenntnisse des Sachverständigen als Psychologischer Psychotherapeut ist der Nachweis des Vorliegens einer Behinderung im Streitfall aber auch durch ein Gutachten eines Psychologischen Psychotherapeuten möglich. Schließlich zeigt auch ein Vergleich mit der Regelung des § 35a Abs. 1 und 1a SGB VIII, dass ein Psychologischer Psychotherapeut fachlich geeignet ist, eine seelische Behinderung festzustellen.
Denkanstoß:
Da die Revision zugelassen wurde und auch zwischenzeitlich unter dem Az. III R 9/23 vorliegt, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Soweit ersichtlich hat der BFH bislang immer auf ein ärztliches Gutachten abgestellt. Ob das aber „bewusst“ geschah und verallgemeinert werden kann oder ob es nur den jeweiligen Sachverhalten „geschuldet“ war, kann ich nicht beurteilen. Von daher wird spannend sein, wie der BFH in der jetzigen Revision entscheiden wird.
Übrigens, nur am Rande: Mit einer von der Familienkasse vorgeschlagenen ärztlichen Begutachtung durch den Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit erklärte sich die Klägerin nicht einverstanden, da ihre Tochter in stetiger ärztlicher Behandlung sei. Das mag man als „falsch“ empfinden, doch wer das eingangs erwähnte Urteil des FG Rheinland-Pfalz studiert, wird feststellen, dass eine gewisse Skepsis gegenüber dem von der Familienkasse „ausgesuchten“ Gutachter durchaus angebracht sein kann. Ein (Halb-)Satz aus der Urteilsbegründung lässt aufhorchen: „Mit einer durch die Reha/SB-Stelle formularmäßig getroffenen Feststellung, …“. Das FG hat das Gutachten jedenfalls als reines Parteigutachten gewertet – nicht mehr und nicht weniger. Das sollte im Hinterkopf behalten werden, auch wenn die Schreiben der Familienkasse zuweilen den Eindruck erwecken, ein vor ihr in Auftrag gegebenes Gutachten habe quasi Gesetzeskraft.