Bereits früher hatte ich mich in einem Blog zur Rückstellungsbildung für Prüfungskosten mit der Frage befasst, wie mit divergierenden Auffassungen von Bundesfinanzhof und Institut der Wirtschaftsprüfer zum Handelsbilanzrecht umzugehen ist. Das ist letztlich eine Frage danach, woher die anzuwendenden Rechnungslegungsgrundsätze kommen.
Das IDW regelt die aus seiner Sicht vom Berufsstand der Wirtschaftsprüfer zu beachtenden Rechnungslegungsgrundsätze in einem Prüfungsstandard, dem IDW PS 201. Nach kontroverser Diskussion hat das IDW nun eine überarbeitete Fassung dieses Standards vorgelegt. Was lässt sich daraus für das Verhältnis von höchstrichterlicher Rechtsprechung und IDW-Auffassungen lesen?
Bisher vertrat das IDW in seinem IDW PS 201 a.F. die Auffassung, dass höchstrichterliche Finanzrechtsprechung zum Handelsbilanzrecht vom Abschlussprüfer bei seiner Tätigkeit gleichbedeutend mit entsprechender handelsrechtlicher Rechtsprechung zu „berücksichtigen“ ist (IDW PS 201.8 a.F.). Hingegen hatte der Abschlussprüfer nur „sorgfältig zu prüfen“, ob vom IDW verabschiedete Standards bzw. Stellungnahmen „zu beachten sind“. Abweichungen von diesen, auch mit der Begründung höchstrichterlicher Rechtsprechung, waren „darzustellen und ausführlich zu begründen“ (IDW PS 201.13 a.F.). Die Anwendung von Rechnungslegungshinweisen des IDW wurde hingegen nur „empfohlen“ (IDW PS 201.14 a.F.). Entwürfe zu IDW-Standards bzw. Stellungnahmen zur Rechnungslegung konnten bei Fehlen einer konkreten Regelung durch das IDW im Rahmen der Eigenverantwortlichkeit des Prüfers „berücksichtigt“ werden, soweit sie nicht geltenden IDW-Standards bzw. Stellungnahmen zur Rechnungslegung entgegenstanden (IDW PS 201.15 a.F.).
Im Entwurf für einen überarbeiteten IDW PS 201 n.F. von 2019 vertrat das IDW die Auffassung, Rechtsprechung von EuGH und EuG und höchstrichterliche handelsrechtliche Rechtsprechung, die Bedeutung über den entschiedenen Fall hinaus hat, sei bei der Interpretation der Rechnungslegungsnormen zu beachten (IDW EPS 201.8 n.F.).
Hingegen sollte Rechtsprechung des BFH zu bilanzsteuerlichen Fragen bei der Interpretation der Rechnungslegungsnormen nur zu würdigen sein. „Bei dieser Würdigung sind neben bindenden Verlautbarungen des IDW, soweit sie Aussagen zur handelsrechtlichen Rechnungslegung enthalten, insb. auch solche sonstigen Verlautbarungen des IDW zu berücksichtigen, die dem Berufsstand zu konkreter Rechtsprechung des BFH mit handelsrechtlichem Bezug bekannt gemacht worden sind“ (EPS 201.9 n.F.). Diese Regelungen konnte man als die Schaffung einer Möglichkeit zur Herausgabe einer Art von „Nichtanwendungsverlautbarungen“ zur BFH-Judikatur durch das IDW werten. Nach durchaus begründeter Kritik am Entwurf für einen überarbeiteten PS 201 hat das IDW im nun verabschiedeten endgültigen IDW PS 201 n.F. anders formuliert.
Von der bisherigen doch recht deutlichen Rangfolge zwischen höchstrichterlicher Rechtsprechung zum Handelsbilanzrecht und IDW-Verlautbarungen im alten IDW PS 201 a.F. weicht das IDW mit seinem jüngst veröffentlichten IDW PS 201 n.F. dabei weiterhin deutlich ab. Danach ist Rechtsprechung des EuGH und EuG, höchstrichterliche Rechtsprechung zum Handelsbilanzrecht sowie BFH-Rechtsprechung zu „bilanzsteuerlichen Fragen im Anwendungsbereich des Grundsatzes der Maßgeblichkeit … – und damit auch zu handelsbilanziellen Fragen – [, soweit sie, d.Verf.] Bedeutung über den entschiedenen Einzelfall hinaus hat, … bei der Interpretation und Anwendung von Rechnungslegungsnormen zu würdigen“ (PS 201.9 n.F.).
„Bei der Würdigung“ sind IDW-(Rechnungslegungs-)Stellungnahmen und Standards sowie deren Entwürfe und IDW-Rechnungslegungshinweise „zu berücksichtigen “ (IDW PS 201.10 n.F.). Im Falle von Abweichungen von den IDW-(Rechnungslegungs-)Stellungnahmen und Standards sind diese im Prüfungsbericht „darzustellen und inhaltlich zu begründen“ (IDW PS 201.15 n.F.). Dies gilt ausdrücklich auch für Abweichungen aufgrund der Rechtsprechung. Bei Abweichungen von Rechnungslegungshinweisen oder von zur Anwendung empfohlenen Entwürfen zu IDW-(Rechnungslegungs-)Stellungnahmen und Standards soll eine Dokumentation in Arbeitspapieren oder Prüfungsbericht ausreichen (IDW PS 201.16 f. n.F.).
Mithin ist zumindest aus dem Standard PS 201 nicht mehr direkt zu lesen, das IDW könne eine Art für Prüfer beachtungspflichtiger „Nichtanwendungsverlautbarungen“ herausbringen. Es scheint nun wieder im Verantwortungsbereich des einzelnen Abschlussprüfers zu liegen, Differenzen zwischen höchstrichterlicher Rechtsprechung und entgegengesetzten IDW-Auffassungen zu würdigen. Befremdlich erscheint dabei, dass sich dies nun auch auf europäische Rechtsprechung und solche des BGH beziehen soll. Nach IDW PS 201 a.F. und nach IDW EPS 201 n.F. war diese Rechtsprechung ja noch zu berücksichtigen bzw. zu beachten.
Ich bin weit davon entfernt, jede höchstrichterliche Rechtsprechung unwidersprochen hinzunehmen. Dafür ist die Qualität der Rechtsprechung und auch ihrer Begründung nicht immer überzeugend genug und eine fiskalische Orientierung gelegentlich erkennbar. Man denke nur an das unsägliche „Apothekerurteil“, in dem der BFH Kern-GoB, wie Vorsichts- und Realisationsprinzip, Einzelbewertungsgrundsatz und die bisherige Nichtbilanzierung des originären Geschäfts- oder Firmenwertes, unzureichend beachtet.
Es erscheint aber im Einzelfall nicht einfach und vor allem nicht risikolos von der BFH-Rechtsprechung abzuweichen. Das gilt umso mehr vor dem Hintergrund des neuerdings in den Vordergrund rückenden, hochproblematischen objektiven Fehlerbegriffs. Schließlich ist die grundsätzliche Akzeptanz und Beachtung geltender höchstrichterlicher Rechtsprechung auch eine Frage der „Rechtshygiene“. Damit bleibt die Entscheidung im Einzelfall letztlich beim einzelnen Abschlussprüfer, der sich im Streit mit einem Mandanten auch mit guten Argumenten nur schwer durchsetzen wird, wenn dieser sich auf höchstrichterliche Rechtsprechung stützen möchte.
Ein Schmankerl bleibt noch: Mit IDW PS 201.23 n.F schließt das IDW jede Bedeutung der IFRS für deutsche Rechnungslegungsgrundsätze aus. Damit tritt das IDW in Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH, der mit seiner „BIAO-Entscheidung“ in besonderen Situationen schon eine Relevanz der IFRS für die GoB-Gewinnung im europäischen Bilanzrecht und damit auch für deutsche GoB gesehen hat. Droht Deutschland jetzt auch hier ein Vertragsverletzungsverfahren der EU und kommt demnächst eine „europäische Bilanzpolizei“ nach Düsseldorf in die IDW-Zentrale ;o)
Lesen Sie auch hier im Experten-Blog meine weiteren Beiträge:
- BFH oder IDW – Wer zählt mehr?
- Fehlerbegriff in der Rechnungslegung – Rechtsprechung des OLG Frankfurt
- Was war das Schlimmste in 2016 – Rechtsbruch aus dem Justizministerium?
Weitere Informationen:
- IDW Prüfungsstandard: Rechnungslegungs- und Prüfungsgrundsätze für die Abschlussprüfung (IDW PS 201 n.F.), IDW Life 2021, S. 500 ff.
- EuGH Urteil v. 07.01.2003 (BIAO) – C-306/99 (datenbank.nwb.de)
- BFH-Beschluss vom 23.6.1997 (GrS 2/93) BStBl. 1997 II S. 735
- Schüttler, BFH-Rechtsprechung in der Handelsbilanz nach IDW EPS 201 n.F., NWB WP Praxis 2020, S. 1 ff.
- Mujkanovic, Objektiver Fehlerbegriff und Wesentlichkeit in der Handelsbilanz – Ist die Rechtsprechung des OLG Frankfurt ein großer Wurf?, StuB 2019, S. 906-911
- Mujkanovic, Zum Fehlerbegriff und zur Wesentlichkeit in der Rechtsprechung des OLG Frankfurt, StuB 2019, S. 857-862
- Mujkanovic, Der Fehlerbegriff in der Rechnungslegung, in: Freiberg (Hrsg.), Festschrift zum 65. Geburtstag von Dr. Norbert Lüdenbach, Herne 2020, S. 1-12