Ein Fokus auf Umverteilungspolitik und Regulierung, fehlende gleichlaufende politische Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat und zuletzt Haushaltsnöte – es gibt eine Reihe von Gründen, warum die deutsche Politik in den letzten gut 15 Jahren keine richtungsweisenden steuerpolitischen Reformvorhaben jenseits der Einführung umfassender, international abgestimmter Anti-Steuervermeidungsvorschriften angestoßen hat.
Eine Resthoffnung mag noch bestehen, dass die derzeitige Koalition aus SPD, Grünen und FDP in Anbetracht der lahmenden Wirtschaft eine Art Wachstumschancengesetz 2.0 auf den Weg bringt. So richtig vorstellen kann sich das aber in Berlin derzeit niemand. Zu groß ist nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem November 2023 der Abstand zwischen Ausgabenwünschen und finanziellen Möglichkeiten.
Droht damit jenseits eher technischer Anpassungen wie dem Jahressteuergesetz 2024, diverser Kleinigkeiten wie z. B. dem Bürokratieentlastungsgesetz IV und einem aus steuerlicher Sicht vermutlich eher symbolischen Dynamisierungspaket ein weitgehender Stillstand der Steuergesetzgebung?
Der Solidaritätszuschlag im Visier
Ein kräftiger Impuls, steuerpolitisch aktiv zu werden, könnte ausgerechnet wieder aus Karlsruhe kommen. Seit die Karlsruher Richter im März ihre Jahresvorausschau veröffentlicht haben, sind zwei Themen wieder ganz nach oben auf die steuerpolitische Agenda gerückt: der Solidaritätszuschlag und die Vergünstigungsregelungen in der Erbschaftsteuer für Betriebsvermögen. Zwar sind die Ankündigungen auf der Vorausschau-Liste der Verfassungsrichter nur mäßig verlässlich – Themen wie die Zinsschranke oder § 8c Abs. 1 Satz KStG tauchten dort in der Vergangenheit regelmäßig auf, ohne dass es bislang zu einer Entscheidung kam. Doch sollte das Verfassungsgericht eine oder gar beide Regelungen verwerfen, käme dies einem Paukenschlag gleich und würde die Politik vor große Probleme stellen.
Dass ein womöglich schon für 2025 erzwungener Verzicht auf den Solidaritätszuschlag die Haushaltspolitiker der Koalition an den Rand des Nervenzusammenbruchs brächte, liegt auf der Hand. Zumindest auf Seiten der FDP würde man dies aber nur allzu gerne in Kauf nehmen, um aus Karlsruhe einen kaum noch für möglich gehaltenen steuerpolitischen Triumph entgegennehmen zu können. Auch steuerrechtlich wäre eine solche Entscheidung einfach umzusetzen. Die Konsequenz wäre aber auch, dass steuerliche Entlastungen an anderer Stelle, etwa im Rahmen der Unternehmensteuerreform, haushaltspolitisch noch schwieriger durchsetzbar wären.
Erneute politische Unruhe durch Vergünstigungsregelungen in der Erbschaftsteuer?
Sehr viel mehr Probleme würde Karlsruhe der Steuerpolitik machen, falls es eine erneute Überarbeitung der Regelungen zum Betriebsvermögen in der ErbSt erzwingt. Schon die letzten beiden – übrigens jeweils vom Bundesverfassungsgericht ausgelösten – ErbSt-Reformen 2008 und 2016 kann man im Nachhinein nicht anders als ein steuerpolitisches Hauen und Stechen bezeichnen. Sowohl innerhalb der damaligen großen Koalitionen als auch zwischen Bund und Ländern kam es damals zu größtmöglichen Verwerfungen. Im Jahr 2016 konnte man sich gar erst nach Ablauf der gesetzten Frist und einem öffentlichkeitswirksamen Räuspern aus Karlsruhe überhaupt einigen.
Es steht zu befürchten, dass eine erneute ErbSt-Reform ähnlich abläuft. Denn wie 2008 und 2016 gibt es derzeit ein politisches Patt. Während SPD, Grüne und Linke eine mögliche gerichtliche Vorlage nur zu gerne aufnehmen und die ErbSt auf Betriebsvermögen deutlich erhöhen würden, haben sich Union und FDP anders positioniert. Weder im Bund noch im Bundesrat gäbe es damit aktuell eine Mehrheit für eine deutliche Verschärfung der Regelungen zum Betriebsvermögen. Erneut langwierige Verhandlungen wären absehbar.
Politische Akteure von Karlsruhe beeinflusst
Sofern das BVerfG mit der geltenden ErbSt nicht einverstanden sein sollte, wäre deshalb besonders spannend, welche Ausgangssituation das Gericht für die Steuerpolitik schafft. Werden die Vergünstigungsregelungen (ggf. ab einem bestimmten Zeitpunkt) komplett verworfen? Dann säßen die Befürworter einer ErbSt-Erhöhung am deutlich längeren Hebel. Der Spruch aus Karlsruhe würde dann das seit vielen Jahren bestehende politische Patt zugunsten der Steuererhöhungsparteien auflösen. Ob die Richter sich derart politisch exponieren wollen, wäre die Frage.
Oder bleibt das aktuelle Recht vorerst anwendbar und die Politik bekommt, wie schon 2008 und 2016, eine Frist für eine verfassungsgemäße Neuregelung gesetzt? Dann läge der Ball wieder im Feld der Akteure der Steuergesetzgebung, Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung wären am Zug. Doch wenig spricht dafür, dass bei einer Neuauflage der früheren Verhandlungssituation am Ende ein überzeugenderes Ergebnis stünde.
All dies werden die Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht wohl antizipieren. Auch Karlsruhe hat kein Interesse daran, dass eine erneute ErbSt-Entscheidung die Politik ins Chaos stürzt und zu einer gesetzgeberischen Reaktion führt, die nur wenige Jahre später erneut am Bundesverfassungsgericht aufschlagen könnte. Wir erinnern uns an die Grundsteuerreform. Sollte das BVerfG eine erneute Überarbeitung der ErbSt erzwingen, wird es also nicht nur auf die materiellrechtlichen Ausführungen des Gerichts ankommen, sondern maßgeblich auch auf die politische Verhandlungssituation, die es erschafft.
Umdenken in der Steuerpolitik notwendig
Die anstehenden Entscheidungen zum Solidaritätszuschlag und zur Erbschaftsteuer haben das Potenzial, die steuerpolitische Agenda in den kommenden Jahren maßgeblich zu prägen. Hinzu kommen die potenziell nicht weniger weitreichenden Entscheidungen zu § 8c KStG, der Zinsschranke oder auch der Mindestgewinnbesteuerung, Stichpunkt Verlustvortrag. Es bleibt zu hoffen, dass die Steuerpolitik angesichts der anstehenden Grundsatzentscheidungen nicht wie das Kaninchen vor der Schlange nur noch nach Karlsruhe blickt, weil Steuergesetze auf den Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen gemacht werden. Es gäbe genug zu tun, um den Steuerstandort wieder fit zu machen. Und wer gute Steuergesetze macht, bekommt auch nicht so oft einen Rüffel vom Verfassungsgericht.
Ergänzt werden kann das seit 2017 beim BVerfG anhängige Verfahren zu den Kinderfreibeträgen. Die Einkommensteuerbescheide stehen seit seit einer Generation (seit VZ 2001) hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Kinderfreibeträge unter § 165 AO.