BVerfG: Verzinsung von Steuernachzahlungen und -erstattung ab dem Jahr 2014 verfassungswidrig

Bekanntermaßen zielt die Zinsfestsetzung gem. § 238 Abs. 1 AO darauf ab, die Vor- und Nachteile, die aus einer von der tatsächlich festzusetzenden Steuer verschiedenen bisher entrichteten Steuer, auszugleichen. Die Regelung soll dabei sowohl für den Steuerpflichtigen (Verzinsung von Steuererstattungen) wie für den Fiskus (Verzinsung von Steuernachzahlungen) wirken. In den letzten Jahren wurde die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe – für jeden Monat 0,5 Prozent, somit 6 Prozent pro Jahr – zunehmend kritisch diskutiert.

In einem Urteil aus dem Jahr 2017 ging der BFH noch von der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes aus. Im urteilsrelevanten Sachverhalt ging es um einen Fall und die für in das Jahr 2013 fallende Zinsen (vgl. BFH V. 09.11.2017 – III R 10/16).
Später meldete der BFH „jedenfalls ab dem Verzinsungszeitraum 2015 schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel“ an der Zinsregelung an (BFH v. 25.04.2018 – IX B 21/18, hier Leitsatz). Die Bundesregierung war von der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes überzeugt und verteidigte die Zinsregelung in einer Stellungnahme gegenüber dem Bundesverfassungsgericht (vgl. BT-Drucks. 19/20836, S. 3). Immerhin konnte der Fiskus in den Jahren 2015 ff. jährlich i.d.R. einen hohen dreistelliger Millionenbetrag an Zinseinnahmen verbuchen (vgl. BT-Drucks. 19/20836, S. 2 f.). Nunmehr hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der Zinsregelung für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 festgestellt und dennoch eine Fortgeltung der Regelung bis zum 31. Dezember 2018 ermöglicht. Erst für in das Jahr 2019 fallende Verzinsungszeiträume muss der Gesetzgeber bis zum 31. Juli 2022 eine Neuregelung schaffen (vgl. BVerfG, v. 08.07.2021 – 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17). Zwar erkannte das Bundesverfassungsgericht es als zulässig an, den durch eine spätere Steuerfestsetzung ergebene Zinsvorteil typisierend zu bestimmen (Verwaltungsvereinfachung) allerdings darf der Steuergesetzgeber „keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss bei seiner Maßstabsbildung realitätsgerecht den typischen Fall zugrunde legen“ (vgl. BVerfG, v. 08.07.2021 – 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 – auch direktes Zitat). Als „evident realitätsfern“ bewertete das Bundesverfassungsgericht daher die Regelung hinsichtlich der Zinshöhe.

Zwar beginnt die Verzinsung von Steuernachforderungen erst mit Ablauf einer zinsfreien „Karenzzeit“ von 15 Monaten, allerdings ergibt sich eine „Ungleichbehandlung von Steuerschuldnern, deren Steuer erst nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt wird, gegenüber Steuerschuldnern, deren Steuer bereits innerhalb der Karenzzeit endgültig festgesetzt wird [..,] Diese Ungleichbehandlung erweist sich gemessen am allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG für in die Jahre 2010 bis 2013 fallende Verzinsungszeiträume noch als verfassungsgemäß, für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume dagegen als verfassungswidrig. Ein geringere Ungleichheit bewirkendes und mindestens gleich geeignetes Mittel zur Förderung des Gesetzeszwecks bestünde insoweit in einer Vollverzinsung mit einem niedrigeren Zinssatz. Die Unvereinbarkeit der Verzinsung nach § 233a AO mit dem Grundgesetz umfasst ebenso die Erstattungszinsen zugunsten der Steuerpflichtigen. Das bisherige Recht ist für bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume weiter anwendbar“ (vgl. BVerfG, v. 08.07.2021 – 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 – auch direktes Zitat). Als Reformalternativen würde sich daher die Reduzierung des Zinssatzes ergeben, was allerdings der regelmäßigen Anpassung der Zinshöhe nach sich ziehen würde. Eine dynamische Reglung nach BGB Vorbild würde wohl ebenfalls eine verfassungskonforme Neuausrichtung darstellen.

Losgelöst vom urteilssachverhalt ergibt sich allerdings eine weitere wichtige Überlegung. Bedenkt man, dass ein moderner Steuerstaat seine Legitimation insbesondere durch die verfassungskonforme Ausgestaltung des Steuerrechts erlangt, dann muss der Steuergesetzgeber aktiver an die Beseitigung nicht verfassungskonformer Regelung herangehen. So hat sich die Feststellung der Verfassungswidrigkeit bei der Grundsteuer und Rentenbesteuerung seit Jahren abgezeichnet, dennoch wurden die Regelung nicht proaktiv angepasst. Auch die Verfassungswidrigkeit bei der Steuerverzinsung kann für niemand überraschend gewesen sein – immerhin wurde die Zinshöhe seit vielen Jahrzehnten nicht angepasst. Offenbar benötigt die Anpassung von steuerlichen Regelungen zunehmend den judikativen Druck. Hierunter beginnt allerdings die Akzeptanz des Steuersystems zunehmend zu leiden. Der Steuergesetzgeber muss daher aktiver an die Reform des Steuerrechts herangehen, damit die punktuelle Verfassungsinkonformität des Steuerrechts nicht zum Dauerzustand wird.

Lesen Sie hierzu auch den Beitrag von Herrn Michael Baum, NWB 35/2021 Seite 2580 „Vollverzinsung mit Zinssatz von 6 % verfassungswidrig – Konsequenzen für den Gesetzgeber und die Praxis“.


 

 

 

 

 

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