Handels- wie steuerrechtlich sind für ungewisse Verbindlichkeiten unstrittig Rückstellungen zu bilden. Die Finanzrechtsprechung hat dabei wegen der Streitanfälligkeit unsicherer Schulden in unzähligen Einzelurteilen sachverhaltsspezifische Lösungen gesucht. Jüngst hatte sich der BFH mit der Frage zu befassen, ob ein im Spezialgerüstbau bei Großindustrieanlagen tätiges Unternehmen für die Verpflichtung zur Räumung des Baustellenlagers eine Rückstellung zu bilden hat.
Bereits in einem früheren Blog zu Rückstellungen für die Aufbewahrung von Mandantendaten hatte ich die in Rechtsprechung und Literatur genannten Kriterien für den Ansatz von Verbindlichkeitsrückstellungen wie folgt typisiert:
- Vorliegen oder Entstehen einer Außenverpflichtung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
- Rechtliche oder wirtschaftliche Verursachung
- Mit der Inanspruchnahme ist ernsthaft zu rechnen
- Quantifizierbarkeit
Die Außenverpflichtung kann dabei aus einem zivilrechtlich begründeten Leistungszwang, einer öffentlich-rechtlichen oder aus einer rein faktischen Verpflichtung resultieren. Für die wirtschaftliche Verursachung wird meist daran anknüpft, dass die Verpflichtung der Geschäftstätigkeit der Vergangenheit und damit den in der Vergangenheit erbrachten Erträgen zuzuordnen ist. Die rechtliche Verursachung setzt das Vorliegen sämtlicher Tatbestandsvoraussetzungen einer rechtlichen Verpflichtung voraus. Die Inanspruchnahme muss zumindest zu erwarten sein. Eine bloße Möglichkeit reicht für die Erfüllung des Kriteriums nicht aus. Für die Quantifizierbarkeit ist die Schätzbarkeit des Verpflichtungsbetrags innerhalb einer angemessenen Bandbreite erforderlich.
Im streitigen Fall schloss das Gerüstbauunternehmen mit den Kunden Rahmenverträge mit mehrjähriger Laufzeit, im Rahmen derer über Einzelverträge („Abrufe“) konkret zu erbringende Gerüstbauarbeiten erfolgten. Mit den Entgelten für die Gerüsterstellung waren auch der An- und Abtransport des Gerüstmaterials, dessen Vorhaltung, die Baustelleneinrichtung sowie die Montage und die Demontage der Gerüste abgegolten. Abrechnung und Erlöserfassung erfolgten jeweils nach Abwicklung der Einzelaufträge.
Mit Zustimmung des jeweiligen Auftraggebers wurden auf dessen Gelände Material und Anlagegüter (u.a. Container für Büroarbeiten und für die Unterbringung von Arbeitnehmern, Trecker, Anhänger und Gabelstapler etc. für den Transport des Gerüstmaterials auf der Baustelle) gelagert. Die Rahmenverträge enthielten die Verpflichtung die Lager- und Arbeitsplätze sowie Zufahrtswege in ordnungsgemäßem Zustand zu erhalten bzw. wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen. Für die Kosten des bei Auslaufen der Rahmenverträge erforderlichen Abtransports der auf der jeweiligen Baustelle befindlichen Güter bildete das Gerüstbauunternehmen Rückstellungen in Höhe des Barwerts der geschätzten Personal- sowie Transportkosten.
Das FG Münster hatte die Bildung einer Rückstellung abgelehnt, da die Leistungspflicht des Gerüstbauers gegenüber Dritten von eigenbetrieblichen Erfordernissen gleichgerichtet und kongruent überlagert würde.
Im Revisionsverfahren erkannte der BFH keine Rechtsfehler: „Nach Maßgabe ständiger Rechtsprechung des BFH kann es ungeachtet einer ausreichend bestimmten Außenverpflichtung aber — dabei unabhängig von der Rechtsnatur als privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Verpflichtung — in Betracht kommen, die wirtschaftlichen Interessen des Leistungsverpflichteten und des Anspruchsberechtigten zu gewichten und im Einzelfall ein sog. eigenbetriebliches Interesse als wirtschaftlich auslösendes Moment der Belastung zu werten“.
Entgegen der mannigfaltigen Kritik in der Literatur sei insbesondere in den Fällen daran festzuhalten, „in denen eine bestehende Außenverpflichtung durch ein eigenbetriebliches Interesse bei wirtschaftlicher Betrachtung vollständig überlagert wird … und damit der Sache nach eine sog. Aufwandsrückstellung vorliegt.“ Der BFH rechtfertigt dies damit, dass die Außenverpflichtung eine wirtschaftliche Belastung auslösen müsse „und diese Frage nicht losgelöst von einem damit im unmittelbaren Zusammenhang stehenden eigenbetrieblichen Interesse beantwortet werden“ könne.
Der BFH erkennt keine Rechtsfehler in der Auffassung des FG, das eigenbetriebliche Interesse des Gerüstbauers an der Auflösung des Baustellenlagers und der Rückführung in das Zentrallager der Klägerin überlagere den Umstand der zivilrechtlichen Verpflichtung zur Räumung des jeweiligen Grundstücks in vollem Umfang. Das Lager auf dem Grundstück diene der künftigen Verwendungen im Interesse der Klägerin und die Grundstücksräumung weise einen untrennbaren Zusammenhang mit dem (Rück-) Transport in das Zentrallager auf.
Das Urteil kann sich je nach Sichtweise für die Laufzeit des jeweiligen Rahmenvertrages im Ergebnis hören lassen. Man kann in der Sache argumentieren, dass die Vorhaltung von Material bzw. Anlagegütern beim Kunden während der Laufzeit der Rahmenverträge grundsätzlich der Erfüllung der laufenden Leistungsverpflichtung dient, mithin eine Rückstellung nicht angezeigt sei. Handelsrechtlich kann das solange gelten, wie die Rahmenverträge verlustfrei bleiben!
Jedoch ist selbst bei Akzeptanz dieses Arguments die Verabsolutierung des BFH nicht aus der Sache begründbar. Soweit wegen Auslaufens der Rahmenverträge keine Aufträge mehr zu erwarten sind, wird man handelsbilanziell und wegen des Maßgeblichkeitsgrundsatzes in der Folge auch steuerbilanziell wegen des Vollständigkeitsgrundsatzes (§ 246 Abs. 1 Satz 1 HGB) um den Ansatz einer Rückstellung für eine ungewisse Verbindlichkeit nach § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB nicht herumkommen. Das sieht der BFH möglicherweise unzutreffend anders: „Auf dieser Grundlage kann entsprechend der Auffassung des FG offenbleiben, ob im Streitfall die Voraussetzungen für einen sog. Erfüllungsrückstand überhaupt dem Grunde nach erfüllt waren.“ Ein Rückstellungsverbot wegen von der Rechtsprechung unterstellter unzulässiger Aufwandsrückstellung liegt dann nicht vor, wenn der Gerüstbauer gegenüber dem Kunden einem Zwang zur Lagerauflösung unterliegt und wegen Auslaufens des Rahmenvertrags kein – in der Terminologie des BFH – Eigeninteresse des Gerüstbauers am Lager mehr vorliegt. Eine Argumentation mit den hohen Werten, die einen Rücktransport durch den Gerüstbauer als Eigeninteresse definieren, verkennt die Pflicht zum vollständigen Schuldausweis, der mangels einzelvertraglicher Kompensation auch in keiner Weise mehr sachgerecht „wegzuargumentieren“ ist.
Man kann das Ergebnis der Finanzrechtsprechung aber auch generell in Frage stellen, die das Eigeninteresse mehr oder weniger willkürlich in den Vordergrund stellt und damit den vollständigen Schuldausweis verhindert. Selbstverständlich hat auch ein Kraftwerksbetreiber ein Eigeninteresse daran, ein Kraftwerk an einer bestimmten Stelle zu betreiben, auch wenn er einer Beseitigungsverpflichtung zum Ende der Betriebszeit unterliegt. Hier wird die Rechtsprechung wohl die Beseitigungsverpflichtung höher gewichten als das eigenbetriebliche Interesse – aber wohl mehr „aus dem Bauch heraus“. Ansonsten gäbe es hier ja auch keine Ansammlungsrückstellung nach h.M.
Weitere Informationen:
Lesen Sie im Blog auch meinen Beitrag Rückstellungen für „freiwillige“ Aufbewahrung von Mandantendaten – Wer macht schon etwas freiwillig?