BFH hält Höhe der Aussetzungszinsen für verfassungswidrig – Was Steuerpflichtige jetzt tun sollten

Der VIII. BFH-Senat hält den gesetzlichen Zinssatz von 6 % p.a. für sog. Aussetzungszinsen für verfassungswidrig; er hat daher das Bundesverfassungsgerichtangerufen (BFH v. 8.5.2024 – VIII 9/23). Was folgt daraus für Steuerpflichtige?

Hintergrund

Einspruch und Klage haben im Steuerrecht grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung (§ 361 Abs.1 AO), d.h. die Erhebung einer Abgabe wird nicht aufgehalten, der Steuerpflichtige muss die festgesetzte Steuer also zunächst zahlen. Die aufschiebende Wirkung von Einspruch und Klage kann aber in einem summarischen Verfahren auf Antrag bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids von Finanzamt oder Finanzgericht gesondert durch die Aussetzung der Vollziehung (AdV) angeordnet werden (§ 361 Abs.2, 4 AO).

Für den Steuerpflichtigen bedeutet das einerseits, dass er die Steuer zunächst nicht zahlen muss. Andererseits droht ihm eine Belastung mit Zinsen, wenn sein Rechtsmittel endgültig ohne Erfolg bleibt und er die Steuer „nachträglich“ zahlen muss. Er hat dann nämlich für die Dauer der AdV und in Höhe des ausgesetzten Steuerbetrags Zinsen in Höhe von 0,5 Prozent pro Monat, also 6 Prozent pro Jahr zu entrichten (Aussetzungszinsen, § 237 i.V.m. 238 Abs. 1 S. 1 AO).

Sachverhalt im Streitfall

Im Streitfall hatte der Kläger seinen Einkommensteuerbescheid 2012 angefochten. Dessen Vollziehung setzte das FA aus. Die Klage war erfolglos. Aussetzungszinsen von 0,5 Prozent/Monat wurden für 78 Monate festgesetzt, u.a. für den Zeitraum von 1.1.2019 bis zum 15.4.2021. Der Kläger wandte sich gegen die Höhe der Zinsfestsetzung: 6 Prozent Zinsen im Jahr ließen sich im Streitzeitraum am Kapitalmarkt nicht erwirtschaften, deswegen sei der Aussetzungszinssatz zu hoch bemessen.

Entscheidung des BFH

Nach Auffassung des BFH ist ein Zinssatz für die Zinsen bei AdV in Höhe von einhalb Prozent pro Monat, also 6 % p.a. gemäß § 237 i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO im Zeitraum vom 01.01.2019 bis zum 15.04.2021 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Zumindest während einer anhaltenden strukturellen Niedrigzinsphase sei der gesetzliche Zinssatz der Höhe nach evident nicht (mehr) erforderlich, um den durch eine spätere Zahlung typischerweise erzielbaren Liquiditätsvorteil abzuschöpfen.

Zudem werden nach BFH-Sicht Steuerpflichtige, die Zinsen schulden, weil sie die Steuer nach AdV nicht bezahlt haben, und Steuerpflichtige, die Nachzahlungszinsen entrichten müssen, weil ihre Steuerfestsetzung zu einem Unterschiedsbetrag (§ 233a Abs. 3 AO) geführt hat und sie die materiell-rechtlich von Anfang an geschuldete Steuer deshalb erst später zahlen müssen, ungleich behandelt. Denn Nachzahlungszinsen werden seit dem 1.1.2019 lediglich mit einem Zinssatz von 0,15 Prozent für jeden Monat, also 1,8 % p.a. berechnet. Auch diese Zinssatzspreizung ist aus BFH-Sicht verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Da der BFH wegen der Gesetzesbindung die Zinsfolge des §§ 237, 238 Abs.1 S.1 AO nicht eigenständig verwerfen kann, musste er jetzt das Verfahren aussetzen und die Entscheidung des BVerfG einholen (Art. 100 Abs. 1 S.1 GG).

Einordnung und Konsequenzen für Steuerpflichtige

Die Höhe der Finanzamtszinsen ist seit Jahren ein Streitpunkt zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigen. Mit Beschluss vom 08.07.2021 – 1 BvR 2237/14 hat das BVerfG die Vollverzinsung in der Höhe von 6 Prozent/Jahr (§ 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 S. 1 AO) ab dem 01.01.2014 für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt, dies aber nicht auf die Aussetzungszinsen und andere Teilverzinsungstatbestände erstreckt. Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung der AO und des EGAO v. 12.7.2022 (BGBl 2022 I S. 1142) ist der Gesetzgeber seiner aus der Entscheidung des BVerfG resultierenden Pflicht zur rückwirkenden Anpassung des Zinssatzes zur Vollverzinsung nachgekommen. Danach hat die neu festgelegte Höhe der Vollverzinsung in § 238 Abs. 1a AO ab dem 1.1.2019 von monatlich 0,15 %, d.h. 1,8 % im Jahr, eine Angleichung an das Marktzinsniveau geschaffen.

Seit der BVerfG-Entscheidung vom Juli 2021 wird auch die Angemessenheit von Säumniszuschlägen in Zweifel gezogen. Divergierende Entscheidungen der BFH-Senate häufen sich, ich hatte dazu bereits mehrfach im Blog berichtet. Nach Ansicht des X. BFH-Senats (BFH v. 23.8.2023 – X R 30/21) bestehen gegen die gesetzliche Höhe des Säumniszuschlags nach § 240 Abs. 1 S. 1 AO auch für Zeiträume nach dem 31.12.2018 keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Andere BFH-Senate sind weiterhin anderer Ansicht (etwa der VIII. Senat – BFH v. 22.9.2023 – VIII B 64/22 (AdV)). Zuletzt hat der BFH (BFH, Beschluss v. 17.7.2024 – X B 79/23) die Verfassungsmäßigkeit der Säumniszuschläge erneut bekräftigt.

Was sollten Steuerpflichtige jetzt tun?

Steuerpflichtigen ist nach dem Vorlagebeschluss an das BVerfG zu raten, Verfahren und Abrechnungsbescheide über Aussetzungszinsen nach Möglichkeit offenzuhalten, bis die angesprochenen Rechtsfragen endgültig durch das BVerfG geklärt sind. Schließt sich das BVerfG dem BFH an, ist die Erhebung von Aussetzungszinsen in zurückliegenden Streiträumen ggf. verfassungswidrig mit der Folge, dass zunächst gezahlte (überhöhte) Aussetzungszinsen zu erstatten wären. Denkbar ist allerdings auch, dass das BVerfG die Bedenken des BFH teilt, dem Gesetzgeber aber eine Übergangsfrist zur Neuregelung einräumt.

Weitere Informationen:
NWB Online-Nachricht – Verfahrensrecht | Aussetzungszinsen von 0,5 Prozent/Monat möglicherweise verfassungswidrig (BFH)

 

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