Im Steuerrecht gilt der allgemeine Grundsatz, dass es nicht auf die Bezeichnung von bestimmten Leistungen oder Tatbeständen ankommt, sondern vielmehr auf deren wirtschaftlichen Gehalt. Gemeinhin wird dies auch als wirtschaftliche Betrachtungsweise benannt und findet ihre Verankerung in der Abgabenordnung, etwa in § 39 AO. Doch wie es fast immer ist: Fällt dieser Grundsatz einmal zulasten der Finanzverwaltung aus, kann sie äußerst hartnäckig sein und pocht auf die wörtliche Auslegung von Vereinbarungen. So auch geschehen in einem Fall, den der BFH kürzlich entschieden hat.
Es ging um eine als „Verdienstausfall“ bezeichnete Entschädigung für ein junges Mädchen. Dieses wurde Opfer eines schweren Autounfalls in der Schweiz und leidet seitdem unter irreversiblen körperlichen und geistigen Folgeschäden. Aufgrund ihrer Schädigung ist sie zeitlebens nicht in der Lage, eine Ausbildung zu beginnen oder Arbeitseinkommen zu erzielen. Nach langjährigen juristischen Auseinandersetzungen leistete die Versicherungsgesellschaft des Schädigers eine als „Verdienstausfall“ bezeichnete Zahlung in Höhe von 695.094 Euro. Das Finanzamt war der Auffassung, dass diese Zahlung zu steuerpflichtigen Einkünften führe und versteuerte diese nach § 24 Nr. 1a EStG.
Das FG Rheinland-Pfalz hat hierzu relativ kurz und knapp entschieden: Leistet der Schädiger Ersatz für Verdienstausfall, weil er davon ausgeht, dass der Geschädigte bei ungestörtem Verlauf (alsbald) wieder eine Anstellung gefunden hätte, unterfällt die Zahlung § 24 Nr. 1a EStG, wenn aufgrund der Umstände des Einzelfalls eine eindeutige Zuordnung zu einer bestimmten Einkunftsart in Betracht kommt. Besonders fies: Das FG hat nicht einmal die Revision zugelassen (Urteil vom 3.1.2019, 3 K 1497/18).
Doch glücklicherweise ist der BFH dem entgegengetreten: Es liegen keine steuerbaren Einkünfte vor, wenn ein 12-jähriges Verkehrsunfallopfer Ersatz für den verletzungsbedingt erlittenen, rein hypothetisch berechneten Erwerbs- und Fortkommensschaden erhält. Dies gilt auch dann, wenn die Vereinbarung als „Verdienstausfall“ bezeichnet wird (Urteil vom 26.5.2020, IX R 15/19).
Wer die Begründung liest, wird feststellen, dass diese fast schon wie eine Ohrfeige für die Vorinstanz wirkt. Diese hätte überhaupt erst einmal prüfen müssen, ob die nach Schweizer Recht gewährte Entschädigung auch nach deutschem Rechtsverständnis entgehende Einnahmen ausgleicht. Und weiter: Das im Schädigungszeitpunkt 12 Jahre alte Mädchen stand in keinem Arbeitsverhältnis; sie hat altersbedingt auch weder ein Ausbildungs- noch ein Arbeits- oder irgendwie geartetes Erwerbsverhältnis angestrebt. Trotz der Bezeichnung der Versicherungsleistung könne die Zahlung nicht dahin gedeutet werden, dass damit Ersatz für steuerbare inländische Einnahmen aus einer konkreten Einkunftsquelle gezahlt werden sollte. Vielmehr stelle der gezahlte „Verdienstausfall“ lediglich Ersatz für die der Klägerin genommene Möglichkeit, sich überhaupt für ein Erwerbsleben zu entscheiden oder ein solches anzustreben, dar. Es fehlt hiernach an der nach § 24 Nr. 1 a EStG erforderlichen kausalen Verknüpfung zwischen der Entschädigung und entgangenen steuerbaren Einnahmen.
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