In einer Eil-Entscheidung hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof (BayVerfGH- v. 17.11.2020/ Vf. 90 – VII-20) es abermals abgelehnt, Bestimmungen der bayerischen Infektionsschutz-Maßnahmen VO (8. BayIfSMV v. 30.10.2020, BayMBl Nr.616) durch einstweilige Anordnung außer Vollzug zu setzen.
Die Begründung allerdings ist irritierend.
Hintergrund
Seit März 2020 erlassen die Länder auf Basis von Beschlüssen der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin (MPK) Infektionsschutzmaßnahmen Verordnung, die umfangreichen Verbote und Beschränkungen der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens beinhalten. In Bayern sind bis November bis lang acht Infektionsschutzmaßnahmen Verordnung erlassen worden. Diese Verordnungen sind bislang in sechs vorläufigen Rechtsschutzverfahren seit März 2020 vor dem bayerischen Verfassungsgerichtshof angegriffen worden (s-u.). (Lediglich in der Entscheidung vom 9.6.2020 hat der BayVerfGH eine Ordnungswidrigkeitenvorschrift teilweise außer Vollzug gesetzt. Im Übrigen aber hat er durchgehend alle Infektionsschutz rechtlichen Maßnahmen unbeanstandet gelassen.
Entscheidung des BayVerfGH vom 17.11.2020
In seiner Entscheidung vom 17.11.2020 hat der BayVerfGH den Erlass einer einstweiligen Anordnung abermals abgelehnt. Es lasse sich nicht feststellen, dass die 8. BayIfSMV v. 30.10.2020, BayMBl Nr.616) wegen Fehlens einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage (§§ 32, 28 Abs. 1 S. 1IfSG) gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs.2 S. 1 Bayerische Verfassung -BV-) verstoße. „Aus den Bemühungen auf Bundesebene, in das Infektionsschutzgesetz einen neuen § 28 a IfSG mit einem Beispielskatalog für notwendige Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus SARS – CoV – 2 aufzunehmen, lässt sich nicht schließen, dass die bisherige Ermächtigungsgrundlage den Parlamentsvorbehalt nicht genügt.“ Es sei nicht offensichtlich, dass in Freiheitsgrundrechte der bayerischen Verfassung eingegriffen werde, insbesondere sei weder die Berufsfreiheit (Art. 101 BV) noch der noch der Gleichheitsgrundsatz (Art. 118 Abs.1 BV) verletzt. Auch wenn die aktuelle Verordnung gegenüber ihren Vorläufern erhebliche Verschärfungen in Form vorübergehender Schließung von Betrieben und sonstigen Einrichtungen enthalten, die bislang unter Auflagen geöffnet bleiben konnten, müssten die Belange der Betroffenen zur Abwehr der Gefahr für Leib und Leben eine Vielzahl von Menschen die gleichzeitig drohende Überforderung des Gesundheitssystems zurücktreten.
Bewertung
Bei allem Respekt vor dem höchsten Gericht in Bayern und der richterlichen Unabhängigkeit muss schon verwundern, mit welcher Gleichgültigkeit das Gericht in einer Entscheidung von Mitte November 2020 schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken gegen die bestehende infektionsschutzrechtliche Ermächtigung in § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG „mit einem Federstrich“ wegwischt.
Geradezu absurd liest sich hierbei aus Juristensicht die Begründung: das Bemühen des Bundes um einen neuen § 28a IfSG lasse nicht darauf schließen, dass die bisherige Ermächtigungsgrundlage dem Parlamentsvorbehalt nicht genüge. So viel Ignoranz hätte man einem bayerischen Verfassungsgericht eigentlich so nicht zugetraut. Das Gericht will einfach nicht wahrhaben, dass selbst der geplante neue § 28a IfSG (BT-Drs. 19/23944) unter Verfassungsjuristen heftig umstritten ist. Davon zeugt die Sachverständigenanhörung im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren – vor dem 17.11.2020 – und die Diskussion des Gesetzentwurfs im Bundestag am 18.11.2020.
Der Verordnungsgeber ist zwar auch auf Länderebene aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG prinzipiell zu Maßnahmen des Gesundheits- und Lebensschutzes verpflichtet (BVerfGE 77,170; BVerfG v. 11.11.2020 – 1 BvR 2530/20). Allerdings scheint dem BayVerfGH hierbei jedes Mittel recht zu sein, um die aktuellen Beschränkungsregeln des Infektionsschutzes in Bayern verfassungsrechtlich zu legitimieren. Das muss deshalb verwundern, weil insbesondere der VGH München in mehreren Entscheidungen (s.u.) eine ausreichende gesetzliche Ermächtigung für infektionsschutzrechtliche Maßnahmen sowie eine Beachtung der Anforderungen des Art. 80 Abs.1 GG mehrfach intensiv – aber bislang erfolglos – angemahnt hat. Mit dieser seit März 2020 fortlaufenden Verwaltungsgerichts-Rechtsprechung erfolgt keinerlei Erwähnung oder gar Auseinandersetzung des BayVerfGH.
So betrachtet wirkt die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 17.11.2020 wie ein Persilschein: Sie ist Ausdruck eines Paktes mit der infektionsschutzrechtlichen Landespolitik in Bayern – koste es was es wolle, basta!
Quellen
PM BayVerfGH v. 17.11.2020
Entscheidungen VGH München:
14.4.2020 – 20 NE 20.763, Rz.14 f.
14.4.2020 – 20 NE 20.735, Rz 15
27.4.2020 – 20 NE 20.793, Ls.3
7.9.2020 – 20 NE 20.1981, Rz.25
29.10.2020 – 20 NE 20.2360 Rz. 28
5.11.2020 – 20 NE 20.2468
Entscheidungen BayVerfGH:
26.3.2020 – Vf. 6 – VII – 20
24.4.2020 – Vf. 29 – VII – 20
8.5.2020 – Vf. 34 – VII – 20
9.6.2020 – Vf. 34 – VII – 20
22.10.2020 – Vf. 26 – VII – 20
17.11.2020 – Vf. 90 – VII – 20
Schön das für solche kontroversen Themen auch Platz im NWB Blog ist.