Die Kapitalauszahlung aus alten Lebensversicherungsverträgen mit Vertragsabschluss vor 2005 ist in den meisten Fällen steuerfrei. Dies gilt nicht nur für Kapitallebensversicherungen, sondern auch für Rentenversicherungen mit Kapitalwahlrecht. Wird bei Fälligkeit das Kapitalwahlrecht ausgeübt, sind die in der Einmalzahlung enthaltenen Zinsen steuerfreie Kapitalerträge. Wird hingegen das Kapitalwahlrecht nicht ausgeübt, sondern die Rentenzahlung gewünscht, sind diese Renten – nach dem Willen der Finanzverwaltung – allerdings mit dem Ertragsanteil nach § 22 EStG steuerpflichtig (BMF-Schreiben vom 1.10.2009, BStBl 2009 I S. 1172 Rz. 19).
Im Jahre 2021 hat der Bundesfinanzhof die Ertragsanteilsbesteuerung jedoch verworfen und zugunsten der Versicherten entschieden: Rentenzahlungen, die auf einem begünstigten Versicherungsvertrag i.S. des § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG 2004 beruhen, sind insgesamt den Einkünften aus Kapitalvermögen i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 6 EStG 2004 zuzuordnen und unter den Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 Nr. 6 Satz 2 EStG 2004 steuerfrei, soweit die Summe der ausgezahlten Rentenbeträge das in der Ansparzeit angesammelte Kapitalguthaben einschließlich der Überschussanteile nicht übersteigt (BFH-Urteil vom 1.7.2021, VIII R 4/18).
Das Urteil war eine kleine Sensation
Viele tausend Steuerzahler hätten von dem Urteil profitieren können. Sie lesen richtig: „hätten“. Denn: Zunächst war festzustellen, dass die meisten – oder gar alle – Finanzämter das positive BFH-Urteil vom 1.7.2021 nicht angewendet haben. Nun kommt es aber: Mit dem Jahressteuergesetz 2024 wird das BFH-Urteil ausgehebelt – und zwar für alle noch offenen Fälle (§ 20 Abs. 1 Nr. 6, § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a i.V.m. § 52 Abs. 28 Satz 5 EStG).
In der Gesetzesbegründung heißt es unter anderem: „Die BFH-Entscheidung steht nicht nur im Widerspruch zur bewährten Verwaltungspraxis, die Umsetzung der Urteilsgrundsätze für Renten aus solchen vor dem 1. Januar 2005 abgeschlossenen Rentenversicherungsverträgen mit Kapitalwahlrecht würde überdies erhebliche praktische und rechtliche Probleme verursachen, insbesondere in Fällen, in denen die Rentenzahlung bereits begonnen hat und eine frühere Besteuerung des Ertragsanteils gegebenenfalls inzwischen nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte. Mit der gesetzlichen Änderung wird die Ertragsanteilsbesteuerung für Renten aus vor dem 1. Januar 2005 abgeschlossenen Rentenversicherungsverträgen mit Kapitalwahlrecht beibehalten. Systemgerecht unterliegen damit Rentenzahlungen aus Rentenversicherungsverträgen auch weiterhin einheitlich der Ertragsanteilsbesteuerung, unabhängig davon, ob der Versicherungsvertrag ein Kapitalwahlrecht vorgesehen hatte, das der Steuerpflichtige nicht ausgeübt hat.“ (BT-Drucks. 20/13419 vom 16.10.2024).
Denkanstoß:
Es liegt auf der Hand, dass die rückwirkende Anwendung des Gesetzes verfassungsrechtliche Zweifel aufwirft. Im Übrigen: Was heißt „systemgerecht“, wenn das oberste deutsche Steuergericht entschieden hat, dass die Verwaltungspraxis gerade nicht „systemgerecht“ war? Und haben „erhebliche praktische Probleme bei der Umsetzung“ den Gesetzgeber jemals davon abgehalten, ein Gesetz zu beschließen? Fragen Sie einmal bei Unternehmen nach, die das Lieferkettengesetz umsetzen müssen.
Für mich ist die – rückwirkende – Gesetzesänderung, verbunden mit der kritikwürdigen Gesetzesbegründung, daher der Aufreger des Monats.