Zuweilen gibt es Urteile, die mich aufregen. Natürlich müssen wir mit Entscheidungen leben, die unserer eigenen Rechtsauffassung widersprechen. Das liegt in der Natur der Sache und man muss es sportlich sehen – man kann nicht immer gewinnen. Ein nachhaltiges Störgefühl habe ich aber, wenn
- Urteile an der wirtschaftlichen Realität vorbei gehen und sich Richter nicht einmal die Mühe machen, diese Realität näher in ihre Betrachtung einzubeziehen,
- die Revision nicht zugelassen wird, obwohl es fast zeitgleich gegenläufige Urteile anderer Finanzgerichte gibt,
- die Revision nicht zugelassen wird, obwohl es in der Literatur (zuweilen sogar von Richtern des eigenen FG) gewichtige Gegenargumente gibt,
- sich die Richter in ihren Entscheidungsgründen nicht mit verfassungsrechtlichen Bedenken auseinandersetzen, obwohl diese von namhaften Verfassungsrechtlern geäußert werden,
- Fälle nicht dem EuGH vorgelegt werden, obwohl bekannt ist, dass es europarechtliche Bedenken gibt.
Ich könnte diese Liste fortführen, beginne jedoch gleich mit dem ersten Urteil, das ich für sehr fragwürdig halte. Es geht es um das Urteil des FG Münster vom 29.03.2017 (7 K 3675/13 E,G,U). Im zugrundeliegenden Fall hatte ein Frisörbetrieb sein Kassensystem offen mit der Software Microsoft Access verknüpft. Eine tatsächliche Manipulation lag nicht vor. Und sie war auch wohl schwierig und nur mit Software-Kenntnissen durchzuführen. Dennoch reichte dem FG allein schon die theoretische Möglichkeit einer Manipulation, um eine Hinzuschätzung von Erlösen zuzulassen.
Im Besprechungsfall mag dieser sogar gerechtfertigt gewesen sein. Allerdings ist für mich schwierig zu begreifen, warum die Revision nicht zugelassen worden ist. Zunächst ist zu beachten, dass es sich um einen Fall aus den Jahren 2007 bis 2009 handelt, also aus Jahren, in denen die „Unveränderbarkeit von Daten und Programmen“ noch nicht in aller Munde war. Dann wird aber auch keine Lösung aufgezeigt, wie es der Steuerpflichtige denn eigentlich besser hätte machen können. Hätte er auf die Access-Datenbank verzichten sollen? Dann wiederum hätte er möglicherweise seiner Einzelaufzeichnungspflicht nicht genüge getan, denn gerade über diese Datenbank kann es ja gelingen, Umsätze mit Kundendaten zu verbinden.
Eigentlich hat der Steuerpflichtige genau das getan, was von ihm verlangt wird. Nur eben möglicherweise mit einem theoretisch veränderbaren Programm. Für mich ist die Entscheidung des FG Münster daher der Aufreger des Monats.
Weitere Informationen:
FG Münster v. 29.03.2017 – 7 K 3675/13 E,G,U
Sehr geehrter Herr Kollege Herold,
Sie sprechen mir aus dem Herzen!
Hoffentlich wird/ist Revision eingelegt und der BFH wird diesen ausgemachten Unsinn einkassieren.
Die in dem Urteil zum Ausdruck kommende Ignoranz und auch das latente Mißtrauen gegenüber den Leuten, die unserem Staat die Kohle reinholen, ist atemberaubend!
Mit kollegialem Gruß, Michael Fickus, WP StB Köln