Bürokratieabbau um jeden Preis? Warum die neuen Aufbewahrungsfristen ein riskanter Deal sind

Mehr Effizienz oder weniger Kontrolle?

Das Vierte Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV) verspricht genau das, was sein Name nahelegt: weniger Papier, weniger Aufwand, mehr digitale Zukunft. Ein zentrales Element ist die Verkürzung der Aufbewahrungsfrist für Buchungsbelege von zehn auf acht Jahre – ein scheinbar kleiner, aber bedeutsamer Schnitt in das Gefüge der steuerlichen Nachvollziehbarkeit.

Was sich ändert – und warum das wichtig ist

Bisher galt: Buchungsbelege sind zehn Jahre aufzubewahren (§ 257 HGB, § 147 AO, § 14b UStG). Künftig sind es nur noch acht. Das klingt zunächst plausibel – immerhin geht es laut Gesetzgeber um eine jährliche Entlastung in Höhe von rund 626 Millionen Euro allein für die Wirtschaft. Doch wer genauer hinsieht, merkt: Diese Rechnung könnte am Ende teuer werden. Denn für besonders schwere Steuerhinterziehungen beträgt die Festsetzungsfrist bis zu 15 Jahre – und genau in dieser Zeit könnten Unterlagen fehlen.

Digitalisierung als Deckmantel?

Der Gesetzgeber betont die Chancen der Digitalisierung. Moderne Archivierungssysteme, Cloudlösungen und papierlose Prozesse – alles schön und gut. Doch digitale Aufbewahrung braucht klare Regeln, Standards und Integritätssicherung. Wer glaubt, dass Speicherplatz die einzige Herausforderung sei, verkennt die Anforderungen an Datenschutz, IT-Sicherheit und Beweissicherung. Ohne verlässliche Rahmenbedingungen wird die „digitale Archivierung“ zum Etikettenschwindel.

Wo bleibt die fiskalische Verantwortung?

Ein erwarteter Steuerausfall von 200 Millionen Euro jährlich ist kein Kollateralschaden – es ist ein ernstzunehmender fiskalischer Effekt, der ausgerechnet in Zeiten knapper öffentlicher Kassen ignoriert wird. Zudem untergräbt die Fristverkürzung die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Denn wer kontrolliert werden soll, braucht überprüfbare Unterlagen – und zwar länger als acht Jahre.

Fazit #1: Bürokratieabbau darf kein Freifahrtschein für Steuerflucht sein

Die Reduzierung der Aufbewahrungsfristen mag auf den ersten Blick wie ein sinnvoller Schritt wirken. Doch in ihrer Pauschalität birgt sie erhebliche Risiken. Wer wirklich nachhaltig entlasten will, muss differenzieren: nach Dokumenttyp, Risikoprofil und Prüfbedürfnis. Ohne diesen differenzierten Blick droht das BEG IV, mehr Kontrolle zu verlieren, als Bürokratie zu sparen.

Entlastung ja – aber für wen?

Zweifellos: Die verkürzte Aufbewahrungsfrist bietet Unternehmen mit analoger Lagerhaltung echte Vorteile. Weniger Regalflächen, weniger Mietkosten, weniger Aktenvernichtung. Auch digital archivierende Betriebe profitieren – wenn auch in überschaubarem Maß. Doch der große Wurf für die Mehrheit der Unternehmen? Der bleibt aus. Warum? Weil die Differenzierung fehlt.

Praxischeck: Uneinheitliche Fristen – keine Entlastung

Das BEG IV reduziert nur die Frist für Buchungsbelege – nicht aber für andere Dokumente wie Handelsbücher, Jahresabschlüsse oder Inventare. Das Ergebnis: ein Flickenteppich an Fristen, der Unternehmen vor neue organisatorische Herausforderungen stellt. Wer eine Frist nicht genau trifft, riskiert Ordnungsmängel bei Betriebsprüfungen. Wer alles länger aufbewahrt, um auf Nummer sicher zu gehen, spart am Ende nichts. Ein klassisches Eigentor im Bürokratieabbau.

Steuerliche Realität: Kontrolllücken vorprogrammiert

Die Finanzverwaltung hat in Stellungnahmen eindringlich gewarnt: Acht Jahre reichen nicht aus, um komplexe Steuerhinterziehungsfälle vollständig aufzuklären. Die Aufbewahrungsfrist fällt damit kürzer aus als die strafrechtliche Verjährungsfrist – ein logischer Bruch, der das Vertrauen in die Durchsetzungsfähigkeit des Steuerrechts gefährdet. Besonders absurd: Für bestimmte Unternehmen (z. B. BaFin-regulierte Institute) wird die Fristverkürzung verzögert eingeführt – ein implizites Eingeständnis, dass man den Kontrollverlust für riskant hält.

Kritischer Ausblick: Was müsste geschehen?

Statt einer pauschalen Verkürzung braucht es eine sektor- und dokumentenbezogene Betrachtung. Einheitliche Fristen können nur dann sinnvoll sein, wenn sie auch den praktischen Anforderungen der Prüfung und Rechtssicherheit genügen. Ebenso braucht es klare Definitionen, wann ein Dokument „steuerlich relevant“ bleibt – andernfalls wird die Auslegung zum Streitfall und Rechtsunsicherheit zum Dauerzustand.

Fazit #2: Zwischen Signalpolitik und Steuerrealität – das BEG IV braucht ein Update

Die Fristverkürzung ist ein politisches Signal – doch wer sich vom Wunsch nach Deregulierung leiten lässt, darf nicht die Grundlagen der Steuergerechtigkeit opfern. Ohne Nachbesserung drohen nicht nur fiskalische Einbußen, sondern auch ein Reputationsverlust für das Steuerrecht als Ganzes. Reform ja – aber bitte mit Augenmaß.

Ein Beitrag von:

  • Prof. Dr. iur. Christoph Schmidt

    • Professor an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg
    • Leiter des Instituts für digitale Transformation im Steuerrecht

    Warum blogge ich hier?
    Ich blogge bereits bei tax&bytes. Oft ergeben sich aber Themen, die einen starken inhaltlichen Bezug haben. Für diese Themen eignet sich der NWB Experten-Blog.

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