§ 175b AO und die Wirkung für die Zukunft des Verfahrensrechts

Gemäß § 175b Abs. 1 AO ist ein Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern, soweit von der mitteilungspflichtigen Stelle an die Finanzbehörden übermittelte Daten im Sinne des § 93c AO bei der Steuerfestsetzung nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt wurden. Hier geht es beispielsweise um die Daten, die Arbeitgeber oder die Sozialversicherungsträger an die Finanzverwaltung übermitteln. In diesem Zusammenhang hatte ich in dem Blog-Beitrag „§ 175b AO hebelt Bestandskraft von Steuerbescheiden zunehmend aus“ bereits ein Urteil des FG Münster vorgestellt.

Eine Änderung nach § 175b Abs. 1 AO ist danach auch dann zulässig, wenn der Veranlagungsfehler selbst bei Vorlage einer Papierbescheinigung aufgetreten wäre und das Finanzamt den Vorgang rechtlich geprüft hat (FG Münster, Urteil vom 14.8.2023, 8 K 294/23 E). Der BFH hat dieses Urteil nun bestätigt. Die BFH-Entscheidung wird weitreichende Konsequenzen haben, so dass das Thema hier noch einmal aufgegriffen werden soll (BFH-Urteil vom 20.2.2024, IX R 20/23).

Der Sachverhalt:

Der Kläger erhielt im Kalenderjahr 2018 eine Abfindung in Höhe von 9.000 Euro. Diese war laut Lohnsteuerbescheinigung, die der Arbeitgeber der Finanzverwaltung digital übermittelt hatte, im Bruttoarbeitslohn enthalten. Der Kläger trug die Abfindung in seiner Einkommensteuererklärung zwar zutreffend ein, erklärte jedoch hinsichtlich des Bruttoarbeitslohns einen um 9.000 Euro gekürzten Betrag. Das Finanzamt übernahm die Eintragungen trotz eingehender Prüfung, was im Ergebnis dazu führte, dass die Abfindung zunächst unbesteuert blieb. Erst nach Ergehen des Einkommensteuerbescheides erkannte das Finanzamt den Fehler und erließ einen geänderten Steuerbescheid. Die hiergegen gerichtete Klage und auch die Revision blieben ohne Erfolg

Die Begründung:

Die Änderungsbefugnis des Finanzamts ergibt sich aus § 175b Abs. 1 AO. Die vom Arbeitgeber übermittelten elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen stellen Daten im Sinne des § 93c AO dar, die bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung nicht zutreffend berücksichtigt worden seien. Unerheblich ist, worauf die unzutreffende Berücksichtigung der übermittelten Daten durch die Finanzbehörde zurückzuführen ist. Es kommt weder auf eine Verletzung der Mitwirkungspflichten durch den Steuerpflichtigen, einen Schreib- oder Rechenfehler des Steuerpflichtigen noch auf ein mechanisches Versehen der Finanzbehörde nach § 129 AO oder einen Fehler der Finanzbehörde bei der Tatsachenwürdigung oder Rechtsanwendung an.

Im Fall des § 175b AO führt eine wortgetreue Auslegung der Vorschrift nicht zu einem sinnwidrigen Ergebnis. Vielmehr entspricht diese Auslegung gerade den vom Gesetzgeber beabsichtigten Zielen, die sich aus der Gesetzesbegründung eindeutig ergeben. Das mit der Einführung des § 175b AO vom Gesetzgeber verfolgte Ziel bestand vornehmlich darin, der Finanzverwaltung in steuerlichen Massenverfahren eine Änderungsbefugnis einzuräumen, obwohl der von Dritten übermittelte Datensatz keinen (verbindlichen) Grundlagenbescheid darstellt und die bereits geltenden Änderungsnormen nicht einschlägig sind (BT-Drucks 18/7457, S. 88 f.). Auf die Ursache der fehlerhaften Berücksichtigung der übermittelten Daten soll es nach der Gesetzesbegründung nicht ankommen.

Denkanstoß:

Ist § 175b AO wirklich geschaffen worden, um sozusagen auf mittelbarem Weg die „althergebrachten“ Korrekturvorschriften auszuhöhlen? Möglicherweise ja. Jedenfalls wird es dazu kommen, nachdem der BFH das Urteil des FG Münster bestätigt hat. Das ist keine gute Richtung für die Zukunft des Verfahrensrechts. Man beachte: In dem zugrundeliegenden Fall hatte die Sachbearbeiterin sogar einen Prüfungsvermerk mit dem handschriftlichen Vermerk „Abfindungsvertrag liegt vor. Geprüft.“ abgezeichnet. Was bleibt, ist immerhin die Erkenntnis, dass Änderungen nach § 175b AO auch einmal zugunsten der Steuerpflichtigen ausfallen können.

 

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