Gemäß § 175b Abs. 1 AO ist ein Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern, soweit von der mitteilungspflichtigen Stelle an die Finanzbehörden übermittelte Daten im Sinne des § 93c AO bei der Steuerfestsetzung nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt wurden. Hier geht es beispielsweise um die Daten, die Arbeitgeber oder die Sozialversicherungsträger an die Finanzverwaltung übermitteln.
Kürzlich hatte ich in dem Blog-Beitrag „Änderung nach § 175b Abs. 1 AO trotz korrekter Eintragungen des Steuerpflichtigen?“ ein Urteil des Niedersächsischen FG vorgestellt. Danach gilt: Wenn ein Steuerpflichtiger in seiner Steuererklärung korrekte Angaben gemacht, das Finanzamt diese aber ignoriert oder gar gestrichen hat, spielt dies für die Möglichkeit einer späteren Änderung nach § 175b Abs. 1 AO keine Rolle (Niedersächsisches FG, Urteil vom 13.10.2022, 2 K 123/22).
In eine ähnliche Richtung geht nun ein Urteil des FG Münster: Eine Änderung nach § 175b Abs. 1 AO ist auch dann zulässig ist, wenn der Veranlagungsfehler selbst bei Vorlage einer Papierbescheinigung aufgetreten wäre und das Finanzamt den Vorgang rechtlich geprüft hat (FG Münster, Urteil vom 14.8.2023, 8 K 294/23 E).
Hier noch einmal der Fall aus Niedersachsen:
Der Kläger erhielt eine Leibrente von der DRV. Diese gab er auch zutreffend in seiner Einkommensteuererklärung 2017 an. Dennoch berücksichtigte das Finanzamt diese Renteneinnahmen bei der Steuerfestsetzung nicht, weil zum Zeitpunkt der Veranlagung im März 2019 keine elektronische Rentenbezugsmitteilung der Rentenversicherung vorgelegen hatte. Die DRV übermittelte die Informationen über die entsprechenden Rentenbezüge des Klägers für den Veranlagungszeitraum erst im Mai 2019. Nach Eingang der elektronischen Rentenbezugsmitteilung änderte das Finanzamt den Einkommensteuerbescheid 2017 nach § 175b Abs. 1 AO. Das Niedersächsische FG hat entschieden, dass die Änderung nach § 175b AO Abs. 1 zulässig war.
Nun zum Münsteraner Urteil:
Der Kläger erhielt im Kalenderjahr 2018 eine Abfindung in Höhe von 9.000 Euro. Diese war laut Lohnsteuerbescheinigung, die der Arbeitgeber der Finanzverwaltung digital übermittelt hatte, im Bruttoarbeitslohn enthalten. Der Kläger trug die Abfindung in seiner Einkommensteuererklärung zwar zutreffend ein, erklärte jedoch hinsichtlich des Bruttoarbeitslohns einen um 9.000 Euro gekürzten Betrag. Das Finanzamt übernahm die Eintragungen trotz eingehender Prüfung, was im Ergebnis dazu führte, dass die Abfindung zunächst unbesteuert blieb. Erst nach Ergehen des Einkommensteuerbescheides erkannte das Finanzamt den Fehler und erließ einen geänderten Steuerbescheid. Die hiergegen gerichtete Klage blieb ohne Erfolg.
Die Begründung:
Die Änderungsbefugnis des Finanzamts ergebe sich aus § 175b Abs. 1 AO. Die vom Arbeitgeber übermittelten elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen stellten Daten gemäß § 93c AO dar, die bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung nicht zutreffend berücksichtigt worden seien. Unerheblich sei, worauf die unzutreffende Auswertung beruhe. Es sei egal, ob dem Steuerpflichtigen ein Verstoß gegen seine Mitwirkungspflicht oder dem Finanzamt ein Verstoß gegen seine Ermittlungspflicht vorzuwerfen ist. Ebenso unerheblich sei es, ob ein Schreib- oder Rechenfehler, ein rein mechanisches Versehen oder ein Fehler bei der Tatsachenwürdigung bzw. der Rechtsanwendung unterlaufen sei. Auch wenn es im Urteilsfall durchaus wahrscheinlich gewesen wäre, dass das Finanzamt den Fehler begangen hätte, wenn ihm die Lohnsteuerbescheinigung in Papierform vorgelegen hätte aufgetreten wäre, hätte der Steuerbescheid geändert werden dürfen (Quelle: FG Münster, Newsletter September 2023)
Denkanstoß:
Gegen beide Urteile liegen die Revisionen vor (X R 25/22, IX R 20/23), so dass der BFH entscheiden muss. Der Wortlaut des § 175b AO ist zwar auf der Seite der Finanzverwaltung, so dass die Erfolgsaussichten der Kläger wohl nicht sehr hoch sind. Allerdings könnte für die Haltung der Kläger durchaus sprechen, dass § 175b AO nicht geschaffen worden ist, um sozusagen auf mittelbarem Weg die „althergebrachten“ Korrekturvorschriften auszuhöhlen. Doch dazu würde es kommen, wenn der BFH insbesondere das Urteil des FG Münster bestätigen sollte. In dem zugrundeliegenden Fall hatte die Sachbearbeiterin sogar einen Prüfungsvermerk mit dem handschriftlichen Vermerk“ Abfindungsvertrag liegt vor. Geprüft.“ abgezeichnet.
Es gilt unverändert, was mein Ausbilder und Mentor zu sagen pflegte:
Recht ist, was Geld in die Kasse spült!